Brüssel/Wien - Erst Frankreich, dann der Währungsfonds, später die USA und nun selbst die EU-Kommission: Die Kritik an der Exportlokomotive Deutschland weitet sich aus. Am Dienstag hat Wirtschaftskommissar Olli Rehn die hohen Leistungsbilanzüberschüsse gegeißelt und nachhaltig höhere Lohnzuwächse in der größten europäischen Volkswirtschaft gefordert. Das würde - so die unter Ökonomen weitverbreitete Ansicht - die private Nachfrage beleben und somit Ausfuhren aus den Krisenstaaten beleben.

Die These ist freilich nicht unumstritten, zumal Deutschland das Gros seiner Überschüsse nicht im Handel mit Europa, sondern u. a. mit Schwellenländern und den USA erzielt. Der positive Saldo im Austausch mit Staaten der Eurozone hat sich in den letzten fünf Jahren auf 2,2 Prozent der Wirtschaftsleistung halbiert. Insgesamt beträgt das Leistungsbilanzplus Deutschlands sieben Prozent. Ein anderer Einwand gegen die Empfehlungen: Wenn Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten einbüße, habe in Europa niemand etwas davon, weil der Erfolg auf hoher Qualität und nicht auf Billigproduktion basiere. Stattdessen würden asiatische oder amerikanische Konzerne profitieren. Zudem konnten zahlreiche europäische Unternehmen im deutschen Sog als Zulieferanten Verbesserungen bei den Ausfuhren erzielen.

Kritik an Niedriglohnsektor

Rehn forderte, dass Berlin vor allem beim Niedriglohnsektor etwas unternehmen solle. Zudem sollten die Investitionen in die Infrastruktur erhöht werden. Wenn sich das Land den Empfehlungen widersetzen sollte, riskiert es ein Verfahren nach den noch relativ neuen Regeln des sogenannten Europäischen Semesters. Der Kommissar wollte sich noch nicht festlegen, ob seine Behörde ein Verfahren einleiten wird. Die Grundlage dafür ist jedenfalls gegeben: Der Leistungsbilanzüberschuss liegt nun schon seit 2007 über dem relevanten Schwellenwert von sechs Prozent.

Am Ende des Verfahrens riskiert Deutschland sogar Bußgeldzahlungen, freilich wird abzuwarten sein, ob von der EU-Kommission geforderte Strafen politisch durchsetzbar sind. Das Regelwerk ist Folge der ökonomischen Ungleichgewichte, die mit zur Eurokrise beitrugen. Dabei kamen mit Spanien und Irland auch Staaten in Schieflage, deren Defizite und Staatsschulden gering waren.

Wenig verändert hat sich laut EU-Herbstprognose das Konjunkturumfeld. Rehn geht nach wie vor von einem Ende der Rezession in der Eurozone aus, allerdings bleiben die Unterschiede dramatisch. Während die Arbeitslosigkeit in Österreich laut Kommissionsprognose 2014 minimal auf fünf Prozent zurückgehen wird, bleibt sie in Spanien mit 26,4 Prozent fast unverändert hoch. Das Wachstum von 1,1 Prozent im kommenden Jahr bezeichnete Rehn als "Wendepunkt". In der Rezession verbleiben demnach nur Zypern und Slowenien, wobei das Nachbarland laut dem Finnen ohne Rettungsprogramm über die Runden kommen wird. Allerdings spitzt sich die fiskale Lage Sloweniens dramatisch zu: Im kommenden Jahr erwartet Brüssel wegen der Rekapitalisierung der Banken ein Haushaltsdefizit von 7,1 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Österreich fällt zurück

Österreichs Wachstumsvorsprung geht laut Einschätzung der EU-Ökonomen laufend zurück. Das Plus der Steigerungsrate schrumpft demnach 2014 auf 0,2 Prozentpunkte, 2015 werde Österreich mit einem Wachstum von 1,8 Prozent sogar hinter jenes der Union (1,9 Prozent) zurückfallen.

Zurück gehen die Anstrengungen in Europa zur Defizitreduktion, einerseits weil Brüssel den Druck in diese Richtung reduziert hat, andererseits weil einige Staaten wie Deutschland ihre Konsolidierungsziele bereits erreicht und somit wieder mehr budgetären Spielraum haben. Das strukturelle Haushaltsdefizit der Eurozone, das um konjunkturelle und Einmaleffekte bereinigt ist, steigt nach Jahren der Verbesserung 2015 wieder von zuvor 1,3 auf 1,5 Prozent des BIPs. (as/Reuters, DER STANDARD, 6.11.2013)