"Die Wahrheit ist, man hat uns nie etwas gefragt. Niemand wollte sich je mit diesen Dingen beschäftigen."

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"Es war der Tiefpunkt der Menschheit", sagt Anita Lasker-Wallfisch, KZ-Überlebende und ehemaliges Mitglied des Mädchenorchesters von Auschwitz, über den Holocaust. Ihre Leidenschaft für Musik und ihr Cello retteten ihr Leben. Erst spät hat sie ihr Schweigen gebrochen und ihre Geschichte niedergeschrieben, weil es "keine schöne Geschichte ist" und sie niemand hören wollte. Ihre Auschwitz-Nummer hat sie niemals entfernen lassen, trotzdem lebe sie nicht "24 Stunden im KZ". Selbst als sie für KZ-Arzt Josef Mengele die "Träumerei" spielen musste, habe sie nichts dabei gefühlt: "Es war Routine." Die Fragen stellte Marie-Theres Egyed.

derStandard.at: Wie erklären Sie sich heute den Hass der Leute bei den Novemberpogromen, als sie Synagogen zerstörten, jüdische Geschäfte und Wohnungen plünderten und Juden auf der Straße demütigten?

Lasker-Wallfisch: Das ist nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Juden passiert. Der Antisemitismus hat sich bei den Verbrechern damals so ausgedrückt. Ich war in Berlin und war damals zwölf Jahre alt. In der Nacht habe ich nichts gemerkt, aber in der Früh bin ich dann auf die Straße gerannt und konnte nicht glauben, was ich gesehen habe. Alles lag auf der Straße. Alkohol ist auf der Straße geronnen, weil die Leute die Alkoholgeschäfte geplündert haben. Später habe ich aber noch viel schlimmere Sachen gesehen.

derStandard.at: Wann wurde für Sie und Ihre Familie die Bedrohung durch die Nationalsozialisten spürbar?

Lasker-Wallfisch: Sehr langsam. Das erste Mal hab ich es gemerkt, als man mir in der Schule nicht den Schwamm geben wollte, um die Tafel abzuwischen."Gib dem Juden nicht den Schwamm", hat ein Kind gesagt. Mit solchen Blödheiten hat es angefangen. Erst langsam haben wir gemerkt, was los ist. Ich komme aus einer Familie, die ganz unreligiös ist. Das Jüdische wurde bei uns nicht betont. Ich war mir nicht bewusst, dass es etwas Schlimmes ist, jüdisch zu sein. Bis man es mir an den Kopf geschmissen hat.

derStandard.at: Was hat das für Ihre Familie bedeutet?

Lasker-Wallfisch: Mein Vater war ein begeisterter Deutscher. Er war Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg mit Eisernem Kreuz. Er konnte nicht glauben, dass die Deutschen so blöd sein würden. Nach dem 9. November haben wir gemerkt, dass das ein Irrtum war und dass wir wegmüssen. Aber da war es schon zu spät.

derStandard.at: Nach Ihrer Verhaftung wegen Dokumentenfälschung sind Sie mit einem Gefangenentransport ins Konzentrationslager Auschwitz gekommen und entgingen der Selektion: Wie kamen Sie zum Mädchenorchester?

Lasker-Wallfisch: Das war ein Zufall. Als ich ins Lager kam, musste ich mich ausziehen, bekam den Kopf rasiert und eine Nummer tätowiert – das wurde von einer Gefangenen gemacht. Sie wollte unbedingt wissen, was draußen los war, ob der Krieg bald zu Ende sein würde. Wir haben uns unterhalten. Sie hat gefragt, was ich vor meiner Verhaftung gemacht habe, und ich habe ihr erzählt, dass ich Cello spiele, obwohl das damals überhaupt nicht in die Landschaft gepasst hat, und sie sagte: "Fantastisch, du wirst gerettet werden."

derStandard.at: Was war die Aufgabe des Orchesters?

Lasker-Wallfisch: Wir mussten Märsche spielen für die Fabriken, die Auschwitz-Birkenau umgeben haben. Die Gefangenen waren die Sklaven. Jeden Morgen sind Tausende von Menschen aus dem Lager marschiert, um in den Fabriken zu arbeiten, und wir standen am Tor und haben Märsche gespielt. Die Deutschen wollten alles immer schön säuberlich haben: "links, rechts, links, rechts" mit Musik.

derStandard.at: In Ihrer Familie spielt Musik nach wie vor eine wichtige Rolle: Ist es Ihnen schwergefallen an der Musik festzuhalten, nachdem Sie von der SS gezwungen wurden, in einem KZ zu spielen?

Lasker-Wallfisch: Nein, Musik kann man nicht kaputtmachen. Die Nazis haben sehr viel kaputtgemacht, aber Musik ist unantastbar.

derStandard.at: Sie haben selbst für den KZ-Arzt Josef Mengele spielen müssen.

Lasker-Wallfisch: Das war alles Routine. Diese Leute konnten jederzeit in unseren Block kommen und etwas verlangen. Und einmal kam der Mengele und wollte die "Träumerei" hören. Ich habe gar nichts dabei gefühlt. Ich wollte es einfach möglichst schnell runterspielen, damit er wieder weggeht. Für Gefühle gab es in Auschwitz kaum Platz.

derStandard.at: Ihre Schwester ist mit Ihnen gemeinsam deportiert worden, war aber nicht im Orchester. Trotzdem haben Sie es geschafft, gemeinsam zu überleben. Wie ist Ihnen das gelungen?

Lasker-Wallfisch: Da ich im Orchester als einzige Cellistin eine 'wichtige Person' war, konnte ich ihr helfen. Das Überleben war aber kompletter Zufall. Es war wichtig, jemanden im Lager zu haben, nicht alleine zu sein. Sie ging auch freiwillig mit mir nach Bergen-Belsen, damit wir nicht getrennt werden.

derStandard.at: Sie haben sich geschworen, nie mehr deutschen Boden zu betreten. Selbst wenn Ihr Orchester, das London Chamber Orchestra, in Deutschland gespielt hat, sind Sie nicht mitgefahren: Wann haben Sie dann Ihre Meinung geändert?

Lasker-Wallfisch: Ich bin einmal mitgefahren, weil das Konzert ganz in der Nähe von Belsen war. Ich wollte gar nicht nach Deutschland, ich wollte sehen, was aus Belsen geworden ist. Ich habe zufällig den Direktor der Belsen-Gedenkstätte getroffen, der verzweifelt nach Menschen gesucht hat, die dort im KZ waren. Ich habe plötzlich gemerkt, dass ich einen besseren Beitrag leisten kann, wenn ich mich dort engagiere und mich nicht aus London mit dem Hass auf die Deutschen begnüge. Überlebende, wie ich, konnten helfen. Das Interesse ist ja erst sehr spät aufgekommen. Es hat zwei Generationen gedauert, bevor man den Mut hatte, der Sache ins Auge zu schauen.

derStandard.at: Lange Zeit haben Sie nicht über Ihre Erfahrungen im KZ gesprochen, auch nicht mit Ihren Kindern.

Lasker-Wallfisch: Wie redet man darüber? Die Wahrheit ist, man hat uns nie etwas gefragt. Niemand wollte sich je mit diesen Dingen beschäftigen. Dass man Kindern so etwas nicht erzählt, ist wieder eine andere Sache. Wer will schon seinen Kindern den Kopf verdrehen und erzählen, dass es eine verkehrte Welt gab, wo die guten Leute im Gefängnis oder im KZ waren und die schlechten Leute in Freiheit. Es war der Tiefpunkt der Menschheit.

derStandard.at: Bis heute haben Sie ihre Auschwitz-Nummer tätowiert: Wieso haben Sie sie niemals entfernen lassen?

Lasker-Wallfisch: Warum sollte ich sie entfernen lassen? Damit ich auch ein Holocaust-Leugner bin? Ich brauche die Nummer nicht, um an den Holocaust erinnert zu werden.

derStandard.at: Gibt es Erinnerungen, die Sie bis heute verfolgen?

Lasker-Wallfisch: Es gibt keine Erinnerungen, die ich nicht loswerde. Wer einmal im KZ war, kommt nicht wieder hinaus. Aber ich verbringe nicht 24 Stunden meines Tages damit, im KZ zu leben. Ich habe auch ein anderes Leben gehabt. Ich mache kein Inventar über die Erinnerungen. Es gibt keine Worte dafür, es ist eine solch unwahrscheinlich entsetzliche Geschichte.

derStandard.at: Haben Sie Sorge, dass die Menschen nichts aus der Geschichte gelernt haben und sich der Holocaust wiederholen könnte?

Lasker-Wallfisch: Hoffentlich nicht in dieser Form. Die Menschen lernen selten aus der Geschichte. Aber die Tatsache, dass wir heute noch vom Holocaust sprechen, ist vielleicht ein gutes Zeichen. Dass wir uns gegenseitig ermorden, scheint in der Natur der Menschen zu liegen. Seit dem Holocaust gab es viele Genozide, wie in Ruanda oder Darfur, aber keine so raffinierte, organisierte Art zu morden. Das war kein ehrlicher Kampf.

derStandard.at: Wie wichtig ist es, dass Zeitzeugen berichten?

Lasker-Wallfisch: Viele junge Leute wollen nicht schon wieder etwas vom Holocaust hören. Man muss das intelligent machen und nicht nur von den fürchterlichen Sachen erzählen, sondern man muss sie dazu anregen, sich anderen Menschen gegenüber besser zu benehmen. Wenn wir alle gleich werden, wäre es ziemlich langweilig auf der Welt. Wir müssen miteinander reden, bevor wir uns totschlagen. Natürlich sollen sie von den Fürchterlichkeiten wissen, aber es soll auch einen Bezug zum Hier und Jetzt geben. Es sieht auch heute nicht so wunderschön aus auf dieser Welt. (Marie-Theres Egyed, derStandard.at, 8.11.2013)