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"Ausgelöst von einem Eindruck, einer Straße oder einem Haus in Paris tauchen Stimmen auf, eine Art zu lachen, der Name Merovée."

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Zu Recht gilt er als einer der großen Sprachkünstler der Gegenwart, 2012 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Patrick Modiano zieht in seinen - mittlerweile über dreißig - meist schmalen Prosawerken Spiralen in die Vergangenheit hinab, aus der Vergangenheit herauf. Die Unwägbarkeiten existenzieller Weggabelungen sowie das Obskure früheren Lebens bringt präzise und unaufdringlich nahe; ausgehend von diffusen Wunden betreibt er eine Archäologie des Gedächtnisses, zugleich eine Reflexion über die Zeit.

Nun ist auf Deutsch sein vor drei Jahren in Paris erschienener Roman herausgekommen: Der Horizont, wieder übersetzt von Elisabeth Edl, allerdings diesmal nicht ganz auf der Höhe ihrer ansonsten gelobten Kunst, indem sie etwa auf enervierende Weise in falscher norddeutscher Manier den Protagonisten mehrmals ein "Laufen" zuschreibt, wenn sie bei Modiano (und es kann in diesen Passagen nicht anders sein) durch Paris gehen.

Es ist ein weiteres Stück auf Modianos konsequentem Weg auf der Suche nach einer verlorenen Zeit. Alle Lebensgeschichten haben Leerstellen; Figuren treten hervor und verschwinden und tauchen vielleicht aus einem blassen Schimmer neuerlich auf, womöglich vierzig Jahre später. So ergeht es Jean Bosmans, einem Pariser Schriftsteller, den eine Spur nicht mehr loslässt. Zunächst trägt sie nur einen Namen: Margaret Le Coz; und damit betritt Bosmans die Tiefenetagen des Gedächtnisses.

Die ersten Sätze des Romans vermögen in Thematik, Hintergründigkeit und sprachlicher Präzision ein gutes Beispiel des Modiano-Tons zu geben. "Depuis quelque temps Bosmans pensait à certains épisodes de sa jeunesse, des épisodes sans suite, coupés net, des visages sans noms, des rencontres fugitives." ("Seit einiger Zeit dachte Bosmans an bestimmte Sequenzen seiner Jugend, folgenlose Episoden, jäh abgebrochen, Gesichter ohne Namen, flüchtige Begegnungen").

Die kurzen Sequenzen seiner Jugend, folgenlose, jäh abgebrochene Episoden seien nicht mit dem Rest seines Lebens verbunden, also "blieben sie in der Schwebe, in einer ewigen Gegenwart". So seien sie zu einer "dunklen Materie" geworden, "gewaltiger als der sichtbare Teil des Lebens". Ausgelöst von einem Eindruck, einer Straße oder einem Haus in Paris, tauchen Stimmen auf, eine Art zu lachen, der Name Mérovée und mit dem Gedächtnisblitzlicht auf diesen jungen Mann eine Frau, mit der Bosmans vor vierzig Jahren zusammen war. Das Wort Liebe bleibt unausgesprochen. Aber im Laufe der Beschäftigung mit der Vergangenheit erhält die "Episode" doch die Aussicht auf eine zukünftige Folge, die bis nach Berlin führt und auf eine tiefere Gefühlsbindung über die Zeiten hinweg schließen lässt.

Mit den Bruchstücken der Erinnerung erstehen langsam ein Bild und eine Geschichte. Bosmans war im Umfeld einer Demonstration mit Margaret Le Coz in einem Metroeingang zusammengedrängt worden, die zufällige Begegnung ist der Anfang einer Beziehung, die ihren Namen nicht nennt. Bosmans, dem die Erzählung in die Tiefe der Zeit folgt, arbeitete in einer kleinen esoterischen Buchhandlung und an seinem ersten Roman. Die in Berlin geborene Französin nahm Gelegenheitsjobs an, bis sie plötzlich aus Paris flüchten musste. So wie sie in ihrer vorigen Etappe aus Lausanne und davor aus Annecy geflohen war, verfolgt von einem bedrohlichen Mann, nach heutigen Begriffen ein Stalker. Beide, Jean und Margaret, sind sie auf der Hut - er vor seiner Mutter, die ihn beschimpft und um Geld bedrängt.

Beide stehen sie allein da, ohne Familie, die den jungen Jahren ja eine andere Dimension verleihen würde. Der Stalker und die unerwartet auftretende Mutter geben einer Bemerkung von Bosmans das heftige, unangenehme Exempel: Was man tagaus, tagein erlebe, sei gekennzeichnet von den Ungewissheiten der Gegenwart; doch aus der Ferne betrachtet seien Ungewissheiten und Ängste verflogen.

Margaretes Vorgeschichte bringt der Mittelteil des Romans aus ihrer Sicht als Sie-Erzählung, eingebettet in das Ganze, das aus der Er-Perspektive von Bosman als faszinierendes Puzzle gestaltet ist, in dem die Nebenfiguren ihren undurchsichtigen Hintergrund erahnen lassen. Dabei bewegt sich die Schilderung auf mehreren Zeitebenen, und es ist grandios, wie Modiano mit ihnen verfährt. Zu den Lebenswegen passen die genau verorteten Wege durch die Stadt sowie die Sinnbilder. Der Horizont, das ist in den jungen Jahren das Versprechen von Zukunft, womöglich von Freiheit.

Da Margaret meinte, ihr Verfolger verstelle ihr den Horizont, erklärte Bosmans, sie könnten ja Paris von einem Tag auf den anderen verlassen, "auf der Suche nach neuen Horizonten". Im Rückblick der Erinnerung hat man jedoch die Entscheidungen schon getroffen und an den Weggabelungen des Lebens die Fluchtlinien hinter sich. Patrick Modianos Sprachkunst, obsessiv in die Zeit zurückzusuchen, vermag immer wieder zu faszinieren. Seine Prosa zeigt mit feinen Strichen, wie der Mensch auf unsicheren, schwer durchschaubaren Bruchstücken einer nebulos scheinenden Vergangenheit steht. (Klaus Zeyringer, Album, DER STANDARD, 9./10.11.2013)