Wien – Zu wissen, wo und wie man schlafen wird, wenn die Nacht kommt, ist ein elementares Bedürfnis eines jeden Menschen. So elementar, dass der US-Psychologe Abraham Maslow das Wohnen in seiner Bedürfnishierarchie an zweiter Stelle nennt, gleich nach den körperlichen Grundzuständen zum Beispiel Hunger oder Krankheit.

Wer kein Dach über dem Kopf hat, ist weit entfernt davon, über seine sozialen Bedürfnisse oder gar Selbstverwirklichung nachsinnen zu können – die Gedanken kreisen einzig um die Frage, wie es weitergeht.

Die Wienerin Katharina Obermüller hat das erlebt. Sie war 25, arbeitslos und gerade in Ausbildung zur Kosmetikerin, als ihr der Vermieter mitteilte, sie müsse ausziehen. Der Mietvertrag war auf sechs Jahre befristet. Frau Obermüller sagt, sie habe jede Miete pünktlich überwiesen und auch sonst nie Probleme mit der Hausverwaltung gehabt. Trotzdem: Fünf Monate hat sie Zeit, um zu suchen. Dann muss sie raus.

Seit Kurzem neuer Mitbewohner: Krümel.
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Als Bezieherin von Mindestsicherung (794,91 Euro im Monat) hat sie kaum Chance, auf dem freien Immobilienmarkt eine leistbare Wohnung zu finden. "Sobald ich gesagt habe, dass ich Arbeit suche, war ich draußen", erzählt sie.

Parallel meldet sie sich bei Wiener Wohnen an, die ihr nach vier Wochen absagen. Sie versucht es ein zweites Mal, wieder eine Absage: Familien bräuchten den Wohnraum dringender, lautet die Begründung.

Sie findet nichts. "Die Schlinge wurde immer enger", beschreibt sie die Zeit. Mit Jahresende zieht sie zu ihrer Mutter und deren Lebensgefährten. Der Platz ist eng, sie muss ihre Möbel verkaufen und schläft auf einer Luftmatratze in der Küche. Gleichzeitig meldet sie sich obdachlos.

"Die Situation wurde immer angespannter, es gab viel Streit", erzählt Frau Obermüller, während über ihren Schoß eine der drei Katzen springt, die jetzt mit ihr leben. Das Schlimmste sei die Ungewissheit gewesen; nicht abschätzen zu können, wie lange der Zustand dauern wird.

Katharina Obermüller in ihrem eigenen Reich.
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Die Streitereien nehmen zu, sie kommt bei ihrem Ex-Freund unter, der mit seiner Mutter und drei Geschwistern in einer kleinen Wohnung lebt. In dieser Zeit lebt sie wie auf Zehenspitzen, versucht niemanden auf die Nerven zu gehen. "Ich wusste: Eine Eskalation zu viel, und ich stehe wirklich auf der Straße." Es ist ein typischer Verlauf, wie vor allem Frauen "verdeckt" obdachlos überleben. Sie kommen bei Verwandten und Freunden unter und nehmen in ihrer Abhängigkeit viel in Kauf. Nicht selten auch Gewalt.

Panik vor dem Notquartier

Um keinen Preis will sie in ein Notquartier: "Es waren keine Vorurteile, sondern Panik." Obwohl es ihr vor den Freunden peinlich ist, bittet sie in Heute um Hilfe. Die Ausbildung hat sie inzwischen abgeschlossen. "Ich bin stolz darauf, dass ich es durchgezogen habe." Arbeit findet sie keine.

Die ganze Wohnung ist so ordentlich wie die Küche.
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Dann wird sie in einer Beratungsstelle gefragt, ob sie am "Housing First" Programm vom Neunerhaus teilnehmen will. Ein neuer Ansatz, bei dem Obdachlose rasch zu einer eigenen Wohnung kommen und nicht alle Stufen von Notquartier bis Übergangswohnen durchlaufen müssen. Plötzlich geht alles ganz schnell:Am 15. März darf sie die Pläne sehen, am 31. zieht sie ein.

Es ist eine Genossenschaftswohnung in Favoriten, 35 Quadratmeter mit Keller und Waschküche. Ein Drittel des Anteils von insgesamt 3500 Euro bezahlt sie selbst, ein Drittel kommt vom Sozialamt, der Rest wird über einen Verein finanziert. Für 253 Euro Monatsmiete kann Frau Obermüller nun unbefristet dort wohnen.

"Jeder ist auf Hilfe angewiesen"

"Ich habe mich wie ein normaler Mensch gefühlt", erzählt sie. Ihre Sicht auf "den Sandler im Park", habe sich verändert. "Es ist so anstrengend, wenn man in der Situation ist". Mit den Händen zeichnet sie eine Abwärtsspirale. "Mir ist bewusst geworden, wie schnell man alles verlieren kann, unabsichtlich oder nicht. Jeder ist auf Hilfe angewiesen." (Julia Herrnböck, DER STANDARD, 9.11.2013)