STANDARD: "Ich möchte Musik neu erzählen" heißt Ihr neues Buch. Was heißt Erzählen auf musikalische Weise?

René Jacobs: Es handelt sich um ein Gesprächsbuch mit der Musikwissenschafterin Silke Leopold, und den Titel hat sie gewählt. Wir haben dafür vor zwei Jahren eine Woche lang Gespräche geführt. Einmal ging es um bekannte Stücke, die immer wieder gespielt werden, und ich habe gesagt, dass ich sie neu erzählen möchte: selbst neu kennenlernen, vergessen, was man immer gehört hat, sie neu studieren usw. Man stellt fest, dass bei vielen Stücken immer dieselben fixen Ideen herrschen - zum Beispiel jetzt bei Idomeneo, dass die Musik zwar genial ist, aber das Libretto nichts taugt. Natürlich gibt es weniger gute Libretti, aber das ist ein sehr gutes.

STANDARD: Wir werden über das Stück noch sprechen. Aber was kann es denn überhaupt heißen, dass Musik etwas "erzählt"?

Jacobs: Ich versuche immer, das, was Musik bedeutet, was hinter ihr steckt, deutlich hervorzuheben. Das geht weit über die Oper hinaus. Eine klassische Symphonie basiert auf der Sonatensatzform und ist eine Art von Theater: Es gibt eine Exposition, eine Durchführung, wo die Themen zusammenkommen, aber auch in Konflikt geraten. Und dann kommt im dritten Teil, in der Reprise, die Versöhnung - wie im Theater. Das versuche ich, deutlich nach vorne zu bringen.

STANDARD: Und was bedeutet für Sie das Wörtchen "neu"?

Jacobs: Es so zu spielen, dass es neu scheint, dass es das Publikum im Moment der Aufführung neu entdeckt: das Neuartige des Erlebens. Es ist ja oft so, dass die Menschen in eine bekannte Oper gehen mit der Einstellung: Das Stück kennen wir, und jetzt sind wir interessiert an der neuen Deutung des Regisseurs. Ich behaupte, dass auch ein Musiker ein Konzept haben kann, das auf der Bedeutung der Musik basiert.

STANDARD: Welche Rolle spielt Ihre Erfahrung als Sänger beim Dirigieren? Gibt es da Verbindungen?

Jacobs: Ich habe singen gelernt und ziemlich viel über Singen nachgedacht - das hat Vorteile. Ich weiß ziemlich genau, was ein bestimmter Sänger gut kann und was weniger. Meine Erfahrungen als Sänger helfen mir auch als Dirigent, denn es geht auch in einem symphonischen Programm um Gesangsphrasen, es muss geatmet werden - auch bei den Streichern.

STANDARD: Was sind für Sie die größten Probleme bei "Idomeneo"?

Jacobs: Die Frage, was man streicht und wie. Mozart selbst hat Striche gemacht, unter anderem deshalb, weil er mit zwei Sängern nicht glücklich war, ausgerechnet Idomeneo und Idamante, die schlecht gespielt haben. Wir haben drei Arien gestrichen und Kürzungen in den Rezitativen gemacht. Mozarts Librettist Varesco hatte das Stück zunächst als Lesedrama intendiert. Inhaltlich ist es eine Konfliktsituation zwischen den Generationen, genau in einer Zeit, als Mozart den Konflikt mit seinem Vater und auch mit dem Salzburger Erzbischof Colloredo erlebte. Das steckt alles mit drin, und außerdem ist es ein Thesendrama, eine Kritik an der Volksreligion - eigentlich schon im Geist der Zauberflöte. Außerdem kommt hinzu, dass das Stück ursprünglich eine Tragédie lyrique mit Tanz war.

STANDARD: Was machen Sie damit?

Jacobs: Nichts. Von vornherein wurde entschieden, dass das Tanzelement nicht vorkommen soll. Das ist ja fast immer so, dass der Tanz durch Pantomime ersetzt wird. Das Schlussballett, das sehr, sehr lang ist, spielen wir um die Hälfte gekürzt. So macht es Sinn.

STANDARD: Man darf, man muss Mozart also kürzen. Darf man ihn auch kritisieren?

Jacobs: Ja, aber die Ballettmusik ist großartig, dennoch würde ich sie komplett nur im Konzert spielen. Meine Kritik an Mozart bei Idomeneo betrifft nur La Voce, weil das Happy End durch diese Stimme zustande kommt: ein Orakelspruch, den man nur hört. Manchmal zeigt man Neptun, aber das halte ich für total falsch, weil das Stück davon handelt, dass die griechischen Götter und vielleicht auch der christliche Gott Erfindungen von Menschen sind. Weil sich Mozart mit Varesco nicht verstand, hat er diese Stelle immer mehr gekürzt. Es gibt vier Fassungen, und bei der kürzesten ist gar nicht mehr klar, was gesagt wird. Deshalb machen wir die längste. (Daniel Ender, DER STANDARD, 11.11.2013)