Mit dem Beginn des Herbstsemesters begann das rituelle große Zittern von Eltern, Schülern und Studierenden vor dem Leviathan Schule bzw. Universität: Wird die Institution auch die Talente des Sprösslings beziehungsweise das Genie des Studierenden erkennen und mit erwarteten Bestnoten entsprechend dokumentieren? Haben sich vergangene Flashmobs empörter Eltern gegen die allzu strenge Volksschullehrerin bzw. gegen die Gymnasialdirektorin ausgezahlt? Hat die Schulleitung aus den vergangenen Shitstorms erzürnter Erziehungsberechtigter über die "viel zu schwierigen Rechenaufgaben" entsprechende Schlüsse gezogen?

Der rezente Befund eines renommierten deutschen Wochenmagazins über die Inflation guter Noten in der benachbarten Bildungslandschaft scheint auch für Österreich zu stimmen. Dabei ist "karitative Notengebung" durchaus auch in Sekundarstufen bzw. an einigen FHs bzw. Universitätsinstituten üblich.

Ein Grund dafür: An zahlreichen österreichischen Bildungseinrichtungen werden Professoren und Direktoren von Eltern bzw. Schülern gemobbt: von Eltern deshalb, weil diese mit Eintritt ihres Kindes in die jeweilige Schulstufe plötzlich zu selbsternannten Bildungsexperten mutieren und manchmal auf Jahre hinaus zu erbitterten Gegnern der Unterrichtenden werden; von Schülern und Studierenden, weil diese, bewaffnet mit einem Arsenal an legistischen Argumenten, Pädagogen im Stil eines Staatsanwaltes an das zunehmend engere Korsett schulischer Regelungen fesseln. So kann schon einmal ein zwölfjähriger Hauptschüler seinen Fachlehrer mit 30-jähriger Berufserfahrung mit Verweis auf minutiös geregelte Minutenbegrenzung der mündlichen Prüfung "disziplinieren."

Dass viele Professoren in Gymnasien bzw. an Universitätsinstituten angesichts dieser Übermacht und des permanenten Rechtfertigungsdrucks resignieren und in der Folge die (beinahe richterlich) eingeforderten Bestnoten nolens volens verteilen, ist mittlerweile eine bekannte Tatsache. Insider wissen ja, dass sich niemand so sehr vor der Matura fürchtet wie die prüfenden Professoren selbst.

Die Steigerung dieser Nivellierung nach unten zeigt beispielhaft jene Praxis an einem Wiener Universitätsinstitut, an dem den Studierenden in der ersten Vorlesungsstunde a priori ein "Sehr Gut" in Aussicht gestellt wird, "um sie entsprechend zu motivieren", zumindest nach Ansicht des Tutors. An meiner ehemaligen Fachhochschule Technikum-Wien mussten wir mehrere Krisensitzungen mit Studentenvertretern eines Masterlehrgangs abhalten, weil sich diese weigerten, ein einziges Fachbuch pro Semester zu lesen. Kein Wunder, hatte sich an besagtem TW-Spracheninstitut die sogenannte "karitative Notengebung" schon lange vorher als gängige Praxis etabliert.

Benachteiligte Studierende

Dem gegenüber steht der - auch medial thematisierte - Befund über die Benachteiligung von WU-Studenten bei Bewerbungen an ausländischen Universitäten aufgrund des durch permanente Knock-out-Prüfungen notgedrungen schlechteren Notendurchschnitts. Der Vergleich mit dem gegensätzlichen Trend in Deutschland beweist also einmal mehr die fortschreitende Fragmentierung akademischer Qualität im tertiären Bildungssektor auch in der europäischen Bildungslandschaft. So reüssieren zum Beispiel Studenten, die das Eingangssemster an der WU nicht schaffen, durchaus an ausländischen (z. B. spanischen) Privat-Unis, sofern ihre Eltern genügend Euro bereitstellen.

Angesichts dieser auseinanderklaffenden Qualitätskriterien sowohl an heimischen Instituten als auch an internationalen ist es nicht verwunderlich, dass von Headhuntern zunehmend auch die jeweilige Institution, an der die Ausbildung absolviert wurde, nachgefragt wird, ebenso wie dessen internationales Ranking.

Fakt ist, dem Reality-Check spätestens beim Berufseintritt ist nicht zu nicht entkommen: also der Folgenabschätzung, ob man jahrelang auf Samtpfoten durch die Bildungslandschaft getragen wurde, oder mittels regelmäßiger, ideologiefreier Qualitätschecks eine wettbewerbsfähige Ausbildung erworben hat. Letztere Praxis sollte Österreich nicht verantwortungslos aufgeben, will es den Wirtschaftsstandort des Landes nicht fahrlässig aufs Spiel setzen. (Leopold Stollwitzer, DER STANDARD, 12.11.2013)