In Andernach gilt: Nicht säen, aber ernten.

Foto: Stadtverwaltung Andernach/Lutz Kosack

Konzipiert wurde die "essbare Stadt" von Heike Boomgaarden und Lutz Kosack.

Foto: Stadtverwaltung Andernach/Lutz Kosack

Wein wächst im Stadtzentrum.

Foto: Stadtverwaltung Andernach/Lutz Kosack

Die Bewohner können mitnehmen, worauf sie Appetit haben.

Foto: Stadtverwaltung Andernach/Lutz Kosack

Städtisches Grün muss nicht immer nur schön zum Anschauen sein. In Andernach findet man keine "Betreten der Rasenfläche verboten"-Schilder. 1988 feierten die rund 30.000 Einwohner das 2000-jähriges Bestehen des Orts am Rhein. Doch die alte Stadt im nördlichen Rheinland-Pfalz ist ein Ort der Experimente.

Vor ein paar Jahren wurde begonnen intensiv genutzte landwirtschaftliche Nutzflächen zu einem 13 Hektar großen, naturnahen Gelände umzugestalten. Seit 2010 gibt es dort Naherholungsgebiete, Refugien für den Naturschutz und öffentliche Stadtgärten. Und alle Einwohner dürfen sich bedienen. Gartenbauingenieurin Heike Boomgaarden war wesentlich an der Umsetzung beteiligt und beseitigt im derStandard.at-Interview Bedenken über Schadstoffbelastungen oder Vandalismus und berichtet, warum man Blumenwiesen statt Brachflächen zelebrieren sollte.

derStandard.at: Das Mittagessen können die Andernacher im Stadtpark ernten. Wie wurden durch Lebensmittel wieder Leben in die Stadt gebracht?

Heike Boomgaarden: Das Projekt essbare Stadt ist das erste Modell einer ökohumanen Stadt. Geo-Ökologe Lutz Kosack und ich haben durch eine konsequente Planung und dem Engagement der Bürger ein neues Stadtbild geschaffen. Hierbei stehen vor allem Aspekte der Nachhaltigkeit, der Biodiversität und der urbanen Landwirtschaft im Mittelpunkt. 

Neben der attraktiven Gestaltung der Grünflächen der Stadt sollen diese gleichzeitig im Sinne einer Multifunktionalität ökologische, ökonomische und auch ästhetische Funktionen gleichermaßen unterstützen. Das städtische Grün soll nicht nur für die Augen, sondern auch durch Duft und Geschmack erlebbar gestaltet werden. Die Anlage wird außerdem von allen Schulen und Kindergärten als größter Schulgarten Deutschlands genutzt.

derStandard.at: Sie beschäftigen sich auch mit dem Thema Vielfalt. Wie können wir wieder weg von der "Einheitspflanze"?

Boomgaarden: Nachdem 2010 die Anpflanzung von 101 Tomatensorten auf die Biodiversität im Bereich der Nutzpflanzen hingewiesen hatte, konnte dies 2011 mit Pflanzung von Bohnen fortgesetzt werden. 2012 stand die Zwiebel und 2013 steht der Kohl im Mittelpunkt.

Im Bereich des Stadtgrabens wurde eine Vielzahl essbarer und ästhetisch ansprechender Gehölze gepflanzt. Dies reicht von Mandeln, Pfirsich bis zu Mispeln und Birnenspalieren. Dabei gilt es, auch in der Stadt als Lebensmittelpunkt wieder Lebensmittel erlebbar zu machen. Mit der Umgestaltung der kostenaufwändigen Wechselbeete in nachhaltige Staudenbeete wird die ökologische und ökonomische Umgestaltung der Grünanlagen fortgesetzt.

derStandard.at: Welche Vorteile hat der Anbau von Obst, Gemüse und Kräutern in der Stadt?

Boomgaarden: Wer Gemüse und Obstbäume als Bereicherung im Stadtbild empfindet und Blumenwiesen statt Brache zelebriert, schafft einen Treffpunkt für alle Menschen. Mit der Idee der Bürgergärten entwickelten wir neue soziale Formen des Zusammenlebens in der Stadt und ihrem Umfeld. Statt der bekannten Schilder "Betreten verboten" lädt dann plötzlich ein "Pflücken erlaubt" ein.

Noch scheint vielen die Vorstellung, da erntet jemand, der nicht gesät oder geharkt hat, befremdlich. Aber unsere Erfahrung zeigt: Es funktioniert. Es gibt keinen Vandalismus, weil die Verantwortlichkeit im kleinen, überschaubaren Rahmen für alle mehr erfahrbarer ist als in großen, anonymen Strukturen. Außerdem werden bereits Touristen angelockt.

derStandard.at: Verlangt der Anbau in der Stadt nach anderen Obstsorten oder Gemüsearten? Also gibt es oft andere Vorraussetzungen, die man als Hobbygärtner beachten sollte?

Boomgaarden: Der Anbau in der Stadt ist nicht viel anders zu handhaben wie im Garten.

derStandard.at: Wie sieht es mit der Schadstoffbelastung aus?

Boomgaarden: Die Schadstoffbelastung ist in der Stadt nicht höher als an vielen bewirtschafteten Flächen welche in Autobahn nähe liegen. Selbstverständlich sollten die Gärten nicht auf Verkehrsinseln angelegt werden, sondern in Parks oder  innerstädtischen Grünanlagen oder Brachen.

Bürgergärten sind ein Gegensatz zu Monokulturen. Hier ist es möglich die Kultivierung und Nutzung alter Heilpflanzen, Gewürze, Gemüse- und Obstsorten und hiermit gezielte Erhöhung der Agrobiodiversiät zu errreichen. Gezielter Anbau hilft der Vermehrung von Nutzpflanzen, die von genetischer Erosion bedroht sind.

derStandard.at: Stichwort Billigexporte: Der regionale Anbau ist ethischer und ökologischer. Aber könnte man damit alle Menschen versorgen?

Boomgaarden: Noch kann man damit nicht alle Menschen in der Region versorgen, doch die Demonstration der Produktionsmethoden für die Öffentlichkeit führt zu einem veränderten Konsumverhalten und den Wunsch zu mehr regionalen Produkten. Diese können dann wiederum von einem Landwirt der Region produziert werden. (Julia Schilly, derStandard.at, 14.11.2013)