Naturkunde und Spielzeug in einem: Rentier- Zinnfigur um 1780 aus Nürnberg.

Foto: Hilpert/Spielzeugmuseum

Was heute für Kinder Playmobil ist, waren viele, viele Generationen davor Zinnfiguren. Sie brachten das Weltgeschehen, Kunst, Geschichte und Alltagsleben in die Kinderzimmer - wovon auch die Gedichtzeilen von Joachim Ringelnatz erzählen.

Die ursprünglich aus einer Mischung aus Zinn, Blei, Antimon und Wismut gegossenen flachen, halb- oder vollplastischen Spielzeuge sollten Kindern nicht nur die große, weite Welt näherbringen, sondern sie auch auf ihre Rolle als Mann oder Frau vorbereiten.

"Keine drei Wochen nachdem in der Zeitung von der Wiederauffindung des als verschollen gegoltenen Afrikaforschers David Livingstone durch Henry Stanley berichtet worden war, waren gegossene Figuren dazu erhältlich", taucht Franz Rieder in die Geschichte der kleinen Gestalten und Gegenstände ein. Er ist der Herr über ein Reich, das alle seine Besucher in Gullivers im Liliputland verwandelt: die Zinnfigurenwelt in Katzelsdorf bei Wiener Neustadt.

40.000 Figuren in 300 Vitrinen stellen hier das bunte Leben nach, das märchenhafte ebenso wie das berufliche. Wie Buben ehedem auf den rechten Weg ihrer (männlichen) Zukunft gebracht werden sollten, exerzieren nicht nur Soldaten en miniature vor, sondern auch die detailgetreue Altarausstattung, mit der ab 1850 spielerisch Lust auf den Priesterberuf geweckt werden sollte.

Heute sind Zinnfiguren definitiv ein Spielzeug für (erwachsene) Männer, sinniert Museumsdirektor Rieder. Ein Blick durch den Vereinssaal im ehemaligen Pferdelazarett bestätigt es: Drei leicht ergraute Herren bemalen hingebungsvoll mit ruhiger Hand und flotten Pinselstrichen kleine, silbrig glänzende Skulpturen.

Geschmackswende am Geschirrmarkt

Zinnfiguren waren vermutlich schon im antiken Griechenland und im Römischen Reich verbreitet. Doch dass sie zum beliebten Spielzeug wurden, ist auch einer Geschmackswende im Geschirrmarkt zuzuschreiben: Preiswertes Steingut verdrängte Zinn als Material für Becher, Krüge, Teller. Der Berufsstand der Kandelgießer musste sich nach anderen Produkten umschauen.

Weitverbreitet waren Zinnmodelle ab dem 16. Jahrhundert. Besonders beim europäischen Hochadel, später auch in bürgerlichen Familien wurden von Jung und Alt mit kleinen Heeren spektakuläre Schlachten gewonnen. Ihre Hochphase erlebten Zinnfiguren im 19. Jahrhundert. In Nürnberg, einem Zentrum der Spielwarenindustrie, wurden im Jahr 1880 40 Millionen Figuren hergestellt.

Der Krimkrieg 1854, der Deutsch-Österreichische Krieg 1866 und der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 trieben die Nachfrage nach militärischen Figuren an. Verkauften sich in den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs Zinnsoldaten noch sehr gut, verstummte das Feldgeschrei im Kinderzimmer mit zunehmenden Schreckensmeldungen von der Front.

Der Sammlerwert wird unter anderem durch den Zustand der Figuren bestimmt. "Es gibt nichts Schädlicheres für Spielzeug als Kinderhände", sagt Rieder augenzwinkernd. "Desto teurer sind gut erhaltene, 'ungespielte' Exemplare." Das Gros der Objekte, die etwa von auf Zinnfiguren spezialisierten Auktionshäusern wie Bernd Mrosek angeboten werden, liegt bei Preisen zwischen 20 und 200 Euro pro Stück. Für Raritäten im Originalkarton zahlen Sammler vor allem im angelsächsischen Raum aber schon mal mehrere tausend Euro.

Wer Zinnfiguren als Anlage sammeln möchten, sollte aber unbedingt Fachleute wie Franz Rieder konsultieren. Sie erkennen schon allein aus der Zusammensetzung des Zinns das Alter und damit auch den potenziellen Wert. (Karin Tzschentke, DER STANDARD, 14.11.2013)