Was sagen Sie zu einem Mann, der Ihnen erzählt, er gehorche lieber Gott als den Menschen und er sei aufgrund dessen davon überzeugt, dass er die Tore des Himmels betreten wird, indem er Ihnen die Kehle durchschneidet?

Als Voltaire das vor drei Jahrhunderten fragte, brachte er damit eine neue Art von Angst zum Ausdruck, eine Angst, die viele Europäer heute kennen: das bange Gefühl, dass es mitten unter uns Menschen gibt, deren Überzeugungen und Werte so anders und feindselig sind, dass sie eine physische Bedrohung für unser Leben und unsere Existenz darstellen.

Voltaire sprach nicht von Juden oder Muslimen, sondern von fanatischen christlichen Sektierern, die dazu bestimmt zu sein schienen, die Kontrolle über Europa zu ergreifen. Aber seine Worte nehmen heute, wo sich viele Europäer zum ersten Mal seit Generationen vor den religiösen Minderheiten fürchten, neue Gestalt an: Was, wenn es sich bei Nachbarn, die die Moschee besuchen, nicht um Europäer anderen Glaubens handelt, sondern um Menschen, die mit den europäischen Grundwerten auf Kriegsfuß stehen?

Viel zu lange haben liberale und gemäßigte Europäer solche Fragen ignoriert: Sie seien rassistisch und intolerant. Das hat jenen Autoren, Aktivisten und Politikern das Feld überlassen, die sie klar mit "Ja" beantworten: In Österreich, Frankreich und den Niederlanden haben Parteien, die sich gegen religiöse Minderheiten aussprechen, mindestens ein Fünftel der Stimmen erhalten. Bei den Wahlen zum EU-Parlament 2014 wollen sie ein Drittel gewinnen.

Voltaires Frage muss ernst genommen werden. Folgen Europas Muslime dem Weg früherer Wellen mittelloser Einwanderer, die sich zunächst isolierten und dann ihre Werte, Loyalitäten und Familiengrößen an jene der Gesellschaft um sie herum anpassten, oder sind sie eine Ausnahme, die außerstande oder unwillig ist, sich in den Westen zu integrieren?

Es gibt zwar viele Bereiche, wo Integration nachhinkt und unsere Institutionen diese Einwanderer und ihre Kinder vernachlässigen, doch das vorherrschende Muster bezeugt einen steten Erfolg, vergleichbar dem bei anderen armen Zuwanderergruppen.

Eine islamische Flut über Europa ist höchst unwahrscheinlich: Die neuen Einwanderer haben zwar große Familien, aber die Kirchtürme von Europa werden nicht durch Minarette ersetzt. Die Größe muslimischer Familien sinkt am schnellsten im Vergleich zu anderen, daher ist es rechnerisch unmöglich, dass der Islam eine Mehrheitsreligion, ja nicht einmal eine große Minderheitsreligion wird. Bei den Muslimen in Österreich ist zum Beispiel die Familiengröße von 3,09 Kindern pro Familie 1981 auf 2,77 (1991) und auf 2,3 (2001) gesunken. Noch in diesem Jahrzehnt werden sie wahrscheinlich unter die Reproduktionsrate fallen und sich in dieser Generation an die Geburtenrate von Nichtmuslimen angleichen. Als Spitzenwert könnte Österreich 15 Prozent Muslime haben, was den Islam zur drittgrößten Religion machen würde - vorausgesetzt, dass alle Nachkommen gläubige Muslime sind, was nicht gängiges Muster ist.

Die rasch sinkende Familiengröße ist typisch für die Anpassung der Werte muslimischer Einwanderer an jene des Aufenthaltslandes. In Deutschland etwa bewerten heute 47 Prozent der Muslime (verglichen mit 68 Prozent im deutschen Bevölkerungsschnitt) Homosexualität als moralisch zulässig. In Frankreich toleriert ein ähnlich hoher Prozentsatz außerehelichen Sex und Mischehen, ähnlich der Akzeptanzrate unter französischen Christen. Man muss bedenken, dass diese Menschen aus Ländern stammen, wo diese Zahlen fast bei null liegen. Die Türken und Araber in Europa sind nicht in einer mittelalterlichen Unterwelt gefangen. Sie möchten in vieler Hinsicht voll und ganz europäisch sein, werden aber oft durch restriktive Bildungs-, Arbeits- und Kleinunternehmerpolitik in Europas Städten daran gehindert.

Was ist mit jenen, die doch Extremisten oder Terroristen werden? Dass ein Einwanderungsstopp diesen Horror beenden würde, wäre ein beruhigender Gedanke. Es gibt aber inzwischen mehrere sehr groß angelegte Untersuchungen, die alle zum gleichen Ergebnis kommen: Diejenigen, die in Radikalismus und Gewalt verfallen, sind fast nie aus Einwanderergruppen oder tief gläubigen Kreisen. Sie kommen überwiegend aus der Mittelschicht, die nicht durch ihren religiösen Glauben radikalisiert werden, sondern durch Entfremdung und durch Begegnung mit radikalem politischem Gedankengut.

Diese Ideen gehen davon aus, dass die Welt in einen "islamischen" und einen "westlichen Teil" gespalten ist, deren Kontakt bekämpft werden muss. Genau das ist auch die Vorstellung, die dem Denken westlicher, antimuslimischer Autoren und Politiker zugrunde liegt. Und es sind diese Ideen, die uns tatsächlich bedrohen. (DER STANDARD, 14.11.2013)