Bild nicht mehr verfügbar.

Robert Harris: "Ich unterstütze Snowden darin, dass er die NSA-Aktivitäten aufgedeckt hat, und den Guardian für seine Artikel."

Foto: AP/Jose Luis Magana

Sieht Dreyfus-Affäre als "ersten Skandal der modernen Welt": Robert Harris.

Foto: Heyne / Diana Verlag

Robert Harris hat einen verständnisvollen Freund: Dem Regisseur Roman Polanski hatte er eigentlich ein Drehbuch zugesagt. Wie bei der Adaption von Harris' Roman Ghostwriter wollte das Duo auch bei einem Film über den berühmtesten Skandal der französischen Geschichte kooperieren: 1894 wurde der elsässische Jude Alfred Dreyfus als Spion für Deutschland verurteilt, aus der französischen Armee ausgestoßen und unter unwürdigsten Bedingungen auf einer einsamen Karibikinsel eingesperrt. Émile Zola schrieb 1898 über den Fall den berühmten Artikel J'accuse. Ein Jahr später stimmte Dreyfus seiner Begnadigung zu.

Doch Harris merkte bei der Recherche schnell, dass er lieber einen Roman schreiben wollte. Polanski zeigte sich einsichtig. Und so entstand zunächst ein über 600 Seiten starkes Buch, in dessen Mittelpunkt überraschenderweise nicht Dreyfus selbst steht, sondern der längst vergessene Leiter des französischen Geheimdienstes, Georges Picquart. Auf das Drehbuch zu dem brisanten Stoff muss Polanski deshalb übrigens nicht verzichten: Harris arbeitet schon daran.

STANDARD: Ihr neues Buch "Intrige" beschreibt die Geschichte eines Insiders, der seinem Gewissen folgt. Wie kam es dazu?

Robert Harris: Ich wollte ein Buch über die Dreyfus-Affäre schreiben. Ich begann die Recherche schweren Herzens, schließlich zog sich der Skandal über zwölf Jahre hin, hunderte von Personen waren involviert. Dann entdeckte ich die zentrale Rolle, die Oberst Georges Picquart spielte. Schlagartig war mir ganz klar: Das ist ein sehr moderner, sehr relevanter politischer Spionagestoff.

STANDARD: Geschrieben haben Sie ein Buch, in dem eben nicht der Namensgeber der Affäre im Mittelpunkt steht, sondern dieser längst vergessene damalige Chef des Geheimdienstes.

Harris: Wie schlimm Dreyfus mitgespielt wurde, ist weithin bekannt. Oberst Picquart kannte kein Mensch, ich auch nicht. Dabei ist er Dreh- und Angelpunkt der Affäre. Ohne seine Informationen wären die gefälschten Beweise nie ans Licht gekommen. Dreyfus wäre wahrscheinlich auf der Teufelsinsel gestorben.

STANDARD: Wie kann es sein, dass dieser zentrale Charakter von der Geschichte vergessen wurde?

Harris: Nun, er starb relativ früh, und zwar ausgerechnet 1914, ein halbes Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er hatte weder Frau noch Kinder, niemand hielt die Erinnerung an ihn wach.

STANDARD: Sie schildern ihn als sehr aufrechten, positiven Menschen.

Harris: Das Buch ist ja aus seiner Sicht geschrieben, es sind seine fiktiven Memoiren. So sympathisiert man als Erzähler und Leser wohl instinktiv mit ihm. Er war sicher ein komplizierter, interessanter Mann. Hoffentlich habe ich auch deutlich gemacht, dass er schwierig sein konnte, ein arroganter Intellektueller war, sicher auch Antisemit, ein harter, unbeugsamer Zelot.

STANDARD: Sie ziehen die Parallele zu modernen Spionage-Geschichten, indem sie in vielen kleinen Details die ungeheure Modernität der Dreyfus-Affäre beschreiben.

Harris: Es ist der erste Skandal der modernen Welt. 20 Jahre zuvor wäre es ganz anders verlaufen. Ich konnte bei der Recherche auf riesige Materialberge zurückgreifen, Tagebücher, Gerichtsprotokolle, Artikel. Es gibt Fotografien, sogar die ersten Filmbilder von Dreyfus vor dem Kriegsgericht. Der Skandal wurde durch die Medien ausgefochten. Die französischen und englischen Zeitungen beschrieben die Entwicklung der Affäre detailliert, machten Interviews mit wichtigen Zeugen. Auch US-Zeitungen berichteten sehr genau.

STANDARD: Was die ersten Telegramm-Kabel durch den Atlantik nach New York möglich gemacht hatten.

Harris: Übrigens wurde in den 1890er-Jahren jedes Telegramm ins Ausland vom französischen Außenministerium gelesen, jeder Anruf von London nach New York abgehört. Das erinnert stark an die NSA-Vorgänge.

STANDARD: Komplexe Charaktere wie Picquart haben es Ihnen angetan.

Harris: Ja, die tapfersten Leute sind wie er: Sie schrecken zunächst vor etwas zurück. Aber dann handeln sie. Picquart war sicher kein Feigling, sondern ein zäher, harter Soldat. Sein Ehrgefühl gebot ihm das Handeln. Aber in der Aufdeckung des Dreyfus-Skandals ließ er sich nie hinreißen, etwa Hinweise auf die Methoden und Agenten des französischen Geheimdienstes zu geben. Das unterscheidet ihn natürlich von Edward Snowden.

STANDARD: Dessen Enthüllungen, die durch den "Guardian" veröffentlicht wurden, hat der Leiter des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 als Gefahr für die nationale Sicherheit bezeichnet.

Harris: Ich verstehe, warum die Amerikaner sich ärgern. Aber ich glaube, Snowden hat uns einen Dienst erwiesen.

STANDARD: Sie vertrauen den Staatsorganen nicht?

Harris: Ich unterstütze Snowden darin, dass er die NSA-Aktivitäten aufgedeckt hat, und den Guardian für seine Artikel. Dass der MI5 pauschal sagt, das dürfen Sie nicht drucken - sowas ist Unsinn. Wenn der MI5-Chef konkret sagt: Da riskieren 20 Leute ihr Leben und infiltrieren Al-Kaida, eure Veröffentlichung würde eine Gefahr für diese Leute und deren Familien darstellen - dann würde ich nachdenken, ob es zum Abdruck taugt. Ich würde meinem eigenen Urteilsvermögen vertrauen.

STANDARD: Deshalb lehnen Sie die von der britischen Regierung geplante neue Presseaufsicht ab?

Harris: Die Dreyfus-Affäre ist eine Warnung. Da wurde Hysterie geschürt, die nationale Sicherheit beschworen, es war von einer Judenverschwörung die Rede. Bei harter Presseaufsicht wäre Dreyfus womöglich auf der Teufelsinsel gestorben, weil die Zeitungen zu eingeschüchtert gewesen wären. Die Presse in Frankreich war furchtbar zur damaligen Zeit, allein die antisemitischen Karikaturen. Aber Hässlichkeit gehört zur freien Presse, zur Meinungsfreiheit dazu. Freiheit ist Freiheit, nicht gutes Gewissen oder Kultur oder Gleichheit. Sondern eben Freiheit.

STANDARD: Sie plädieren also für weitgehende Offenheit?

Harris: Alles sollte öffentlich verhandelt werden, auch das ist die Lehre aus Dreyfus. Das ist häufig sehr hässlich, und manchmal kommen Schuldige davon. Aber nur so können wir uns davor schützen, dass Unschuldige im Gefängnis sitzen. Darauf beruht unsere westliche Zivilisation. Und nicht auf Beweisen durch Folter oder Geheimakten.

STANDARD: "Intrige" sollte ursprünglich ein Drehbuch werden. Was hat Sie zum Roman bewogen?

Harris: Ich bin Schriftsteller, weil ich für mich selbst arbeiten will. Ich nehme nicht gern Anweisungen entgegen. Das ist für Drehbuchautoren aber Alltag. Außerdem finde ich die Beziehung zu den Lesern sehr wichtig. Ich tue ja nur die Hälfte der Arbeit. Ich beschreibe, wie Picquart durch Paris geht, in einer bestimmten Jahreszeit, mit bestimmtem Licht, besonderen Gerüchen. Das sind Worte auf einer Buchseite. Dann kommen die Leser und fügen ihre eigenen Assoziationen hinzu. Das gefällt mir. (Sebastian Borger, DER STANDARD, 16.11.2013)