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Grundschüler in Istanbul.

Foto: AP Photo/Murad Sezer

In der Türkei gibt es im Prinzip also drei Schultypen: die öffentlichen Schulen, die privaten und die Nachhilfeschulen. Die privaten Gymnasien sind für die jungen Türken mit wohlhabenden Eltern da, die öffentlichen für den großen Rest. Und die "dershane", die Nachhilfeschulen, versuchen - ebenfalls unter Annahme mitunter erklecklicher Summen - die didaktischen Mängel der beiden ersten auszubügeln. Klingt nicht sehr produktiv, ist es auch nicht. Und jetzt gibt es deswegen noch einen innenpolitischen Bruderkrieg der Frommen und der Machtversessenen: AKP-Gülen gegen AKP-Erdogan. Die Anhänger des in die USA emigrierten islamistischen Netzwerkpredigers Fethullah Gülen in der Regierungspartei gegen das Lager des Premiers Tayyip Erdogan.

Im Human Development Report 2013 der UNDP rangiert die Türkei bei der Zahl der Schul- und Ausbildungsjahre, die ein Kind bei Schuleintritt erwarten kann, mit 12,9 Jahren unter dem Durchschnitt, verglichen mit Europa und mit anderen schnell wachsenden, von jungen Bevölkerungen getragenen Volkswirtschaften wie Mexiko und Korea. Bei der Anzahl der Schul- und Ausbildungsjahre, die Türken im Durchschnitt tatsächlich absolviert haben, wenn sie 25 oder älter sind, liegt das Land noch deutlicher im unteren Feld der Länder: sechseinhalb Jahre in der Türkei, verglichen mit 10,4 in Europa und Zentralasien, 8,5 in Mexiko und 11,6 in Südkorea. Der schlechte Wert ist allerdings auch der niedrigen Ausgangsbasis geschuldet. Der Modernisierungsschub, der mehr Türken länger in Schule und Universitäten bringt, macht sich erst seit 2000 wirklich bemerkbar.

Bunte Welt der Nachhilfeschulen

Der Weg zur Uni führt in der Türkei in der Regel aber erst einmal durch die bunte Welt der "dershane", die jahrelang auf die Eingangsprüfungen vorbereiten. Das türkische Bildungsministerium hat nun einen Gesetzentwurf parat, der auf die Schließung der Nachhilfeschulen abzielt und bemerkenswert hohe Geldstrafen von 500.000 bis einer Million Lira vorsieht (derzeit 190.000 bis 377.000 Euro), sollte sich ein "dershane" bereits von diesem Schuljahr an nicht innerhalb von drei Jahren in eine Privatschule umwandeln oder eben gleich zusperren. Für das Gros der Nachhilfeschulen, die in Büro- und Appartmenthäusern untergebracht sind und deren bunte Werbeschilder an den Fassaden neben Anwaltskanzleien und Zahnarztpraxen überall in den türkischen Städten prangen, dürfte die verordnete Umwandlung in eine reguläre Schule schwerlich zu bewerkstelligen sein.

Das eigentliche Ziel des Nachhilfeverbots liegt aber offensichtlich anderswo. Es geht um Fethullah Gülen, der mittlerweile ein weltweites Netzwerk an Schulen aufgebaut und in seiner Heimat Türkei - an der staatlichen Kontrolle - vorbei auch ein entsprechend großes System von Nachhilfeschulen unterhält. Die sind aber je nach sozialer Lage der Schüler gratis und zählen zu den qualitativ besten des Landes: Begabtenförderung für die halb im Verborgenen arbeitende cemaat, Gülens "Gemeinschaft", und das wichtigste Instrument zur Rekrutierung ihrer Mitglieder von früher Jugend an. 

Entsprechend heftig fällt nun die Reaktion auf die beabsichtigte Schließung der Nachhilfeschulen aus. Ein "Bildungs-Putsch", titelte dieser Tage Zaman, nominell die Zeitung mit der größten Auflage im Land und Vitrine wie Sprachrohr der Gülen-Bewegung. Der Vorwurf war so schwer und die Gleichsetzung mit dem Putsch der Militärs 1980 und dem so genannten "postmodernen Coup" 1997 so kränkend, dass Bildungsministerium und führende AKP-Politiker von "offensichtlichen Lügen" und einer Desinformationskampagne ihrer frommen Freunde sprachen.

Für die Gülen-Leute aber geht es um das soziale Gewissen und um die eigene Macht. Bildungsexperten, Ökonomen, Kolumnisten, selbst Europaparlamentarier werden aufgeboten, um zu begründen, wie fehlgeleitet ein Verbot der Nachhilfeschulen wäre. Der Chef der Journalisten- und Schriftstellerstiftung (GYV), deren Ehrenpräsident Fethullah Gülen ist, warnte unverhohlen vor ungünstigen Auswirkungen für Erdogans AKP bei den kommenden Wahlen.

Gülen-Bewegung in die Schranken weisen

Was aber lässt Erdogan und dessen Vertraute glauben, dass es Sinn macht, kurz vor dem Wahljahr 2014 einen Krieg mit einem Teil ihrer eigenen Partei und Anhängerschaft zu beginnen? Der Regierungschef - so kann man mutmaßen - geht offenbar davon aus, dass er wie zuvor das Militär nun auch die Gülen-Bewegung in die Schranken weisen kann, und dies auf dem für das Netzwerk zentralen Gebiet der Bildung. Es ist eine Kraftprobe, die den türkischen Staat und den gewählten Premier als Sieger hervorgehen lassen soll, befreit von allen konkurrierenden Parallelorganisationen. Die Chancen, dass die Züchtigungsaktion gegen die Gülenisten gelingt, stehen nicht so schlecht. Denn wen sonst als Erdogan und die AKP sollen konservative, gläubige Sunniten am Ende wählen? Allenfalls die Rechtnationalisten der MHP oder Islamisten der Kleinpartei Saadet, die durch die Abwerbung ihres Vorsitzenden Numan Kurtulmuş durch Erdogan auch nur schwächer geworden sind. Eine eigene Gülen-Partei als neue Konkurrenz zur AKP wird es jedenfalls mehrfachen Versicherungen des Predigers zufolge nicht geben.

Die noch weniger beruhigende Lesart wäre, dass Erdogan in seinem Streben nach Machterhalt mittlerweile Sinn für Maß und Mittel verloren hat. Dagegen spricht, dass die Abschaffung oder strenge Maßregelung der Nachhilfeschulen schon seit mindestens einem Jahr auf der Agenda des Premiers steht - also vor Gezi, Wohnungsinspektionen und Alkoholverkaufsverbot.

Mittlerweile hat sich aber auch Staatschef Abdullah Gül, der als dem Gülen-Lager nahe stehend eingeschätzt wird, am Ende aber noch fast jede von Erdogans Entscheidungen geschluckt hat, zu Wort gemeldet. Es sei nicht gut, dass es diese Nachhilfeschulen gebe, meinte Gül, aber zunächst müsste wohl geklärt werden, weshalb der Bedarf an solchen Schulen überhaupt so groß sei und wie man ihn am besten abhilft. Soll heißen: Das türkische Bildungssystem braucht selbst Nachhilfe. (Markus Bernath, derStandard.at, 17.11.2013)