Eine Seelsorgerin (Franziska Hackl) will die Tat eines Terroristen (Florian von Manteuffel) verstehen.

Foto: Alexi Pelekanos / Schauspielhaus

"Die Ereignisse", inszeniert von Ramin Gray, ab 22. 11. am Schauspielhaus Wien.

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Wien - In David Greigs Drama Die Ereignisse schießt ein Mann bei einer Chorprobe wahllos in die versammelte Menschenmenge. Die Seelsorgerin und Leiterin der multikulturellen Gesangstruppe versucht im Verlauf des Stücks den terroristischen Akt zu ergründen; sie sucht nach einer Möglichkeit zur Vergebung.

Was trennt Menschen? Wie tief ist die gesellschaftliche Kluft in Europa? Der britische Schriftsteller David Greig schrieb The Events unter dem Eindruck gegenwärtiger Terrorakte wie dem Massaker auf der norwegischen Insel Utøya 2011. Die in Koproduktion mit dem Schauspielhaus Wien entstandene und für mehrere europäische Länder konzipierte Theaterproduktion hatte im Sommer beim Edinburgh-Fringe-Festival Uraufführung. Ab Freitag ist die deutschsprachige Erstaufführung (Übersetzung: Brigitte Auer) am Schauspielhaus zu sehen.

Das Besondere: Bei jeder Vorstellung wechselt die Besetzung des (Laien-)Chors, der im Stück uns Menschen, die Gesellschaft, repräsentiert. Insgesamt sind bei der Wiener Spielserie vierzehn Chöre im Einsatz, etwa der Brunnenchor, der Polizeichor, der Jedwede Küchenchor, der Stammersdorfer Männergesangsverein usw.

STANDARD: "Die Ereignisse" ist eine Koproduktion zwischen Norwegen, England und Österreich. Haben Sie als Regisseur nach einer europäischen Theatersprache gesucht?

Ramin Gray: Ich würde sagen, Die Ereignisse ist per se ein europäisches Stück. Norwegen ist für den Autor David Greig immer ein sehr wichtiges Land gewesen, das sozialdemokratische Paradies schlechthin. Nach Breiviks Massaker in Utøya hat er sich gemeinsam mit mir sofort daran gemacht, über ein Stück nachzudenken. Wir haben viel recherchiert. Breivik hat ja ein Manifest geschrieben darüber, wie man Europa vor der Islamisierung schützt.

STANDARD: Haben Sie es gelesen?

Gray: Ich habe viel darin gelesen, auch David Greig hat viel gelesen.

STANDARD: Haben Sie ein besonderes Interesse daran, weil auch Ihre Familie zugewandert ist?

Gray: Gewiss. Ich wurde in London geboren, habe eine iranische Mutter und einen jüdischen Vater, beide sind zum Glück überhaupt nicht religiös. Ich habe so gesehen gar kein "englisches Blut" in mir. Dennoch bin ich Europäer, ich liebe Europa, ich bin total stolz auf den europäischen Lebensstil, die europäische Geschichte und Kultur. Ich habe auch im Nahen Osten gelebt, in Kairo, in Syrien, im Libanon. Ich spreche Persisch und Arabisch.

STANDARD: Ihre Kindheit haben Sie in Teheran verbracht.

Gray: Teilweise. Später sind auch meine drei Kinder in Teheran geboren. Also ich weiß ganz gut, wie die islamische Welt von innen aussieht. Da gibt es sehr, sehr viele Probleme. Ich finde, wir müssen die Ängste, wie sie Breivik hegt, ernst nehmen. Diese Ängste gibt es in ganz Europa, jedes Land ist von kulturellen Veränderungen betroffen. Wie leben wir als veränderte Gesellschaft zusammen, wie nähern wir uns an oder nicht, wie reden wir über Differenzen? - Diese Fragen brennen in jedem europäischen Land. Sie bilden den Mittelpunkt des Stücks.

STANDARD: Wie haben Sie recherchiert?

Gray: Wir haben eine Woche in Oslo verbracht und dort viele Menschen getroffen und viel geredet. Aber irgendwann habe ich die Dramaturgin des Theaters gebeten, lass uns doch einmal rausgehen, etwas anderes machen. Und da kam dann die Chorprobe ins Spiel. Sie meinte, "meine Mutter singt in einem Chor, wir in Norwegen lieben das Singen". Diese Mutter wurde dann Vorbild für die Chorleiterin im Stück. Dieser Akt des Zusammenkommens, um gemeinsam zu singen, darin fanden wir das perfekte Bild für die Gesellschaft. Es ist sprichwörtlich harmonisch.

STANDARD: Die Chöre werden auf Tour am jeweiligen Ort immer adaptiert?

Gray: Ja, allein in Birmingham hatten wir fünf verschiedene Chöre. So bekommt man wirklich ganz viele Aspekte der Community in Birmingham zu sehen. So wird es auch in Wien sein. Die Inszenierung bezieht sich auf verschiedene Bereiche der Gesellschaft. In Edinburgh hatten wir einen Chor der Richter, einen von Schülern, einen Lesben/Schwulen-Chor.

STANDARD: Der Chor als Ideal einer vielstimmigen Gesellschaft?

Gray: Ja, und darüber hinaus hat er auch die Funktion wie die Chöre in griechischen Tragödien. So gesehen schließt sich hier der Kreis: Die europäische Theatersprache, die Sie anfänglich erwähnt haben, sie war schon da.

STANDARD: Musik fängt dort an, wo Worte versagen. War auch das intendiert?

Gray: Es ist am Theater sehr verfänglich, zu sehr auf die Wirkung der Musik zu setzen. Ich wurde de facto in einer christlichen Kultur erzogen. Ich gehe nach wie vor sehr oft in Kirchen, ich genieße den Raum, den Geist. Ich denke auch, dass Menschen deswegen vermehrt ins Theater gehen, weil sie nicht mehr in die Kirchen gehen. Ist ja klar: Man kommt und beobachtet einen Menschen, der durch ein Narrativ, durch eine Erzählung geht, genau davon handelt ja das Christentum.

STANDARD: Der Darsteller bei der Uraufführung in Edinburgh war indischer Abstammung.

Gray: Der in Wien ist weiß. Die Attentäter sind total austauschbar geworden. Breivik kämpft gegen die Islamisierung, die Attentäter von Boston oder London für sie. Wahrscheinlich sollte man männlich sein. Es gibt bisher sehr wenige Attentäterinnen.

STANDARD: Es gab bei der Uraufführung Kontroversen über das Stück.

Gray: David Greig ist eine wichtige Stimme der zeitgenössischen britischen Dramatik. Seit seiner für Sam Mendes geschriebenen Geschichte Charlie and the Choclate Factory treibt er auch auf einer gewissen Popularitätswelle. Es ist eine Riesenproduktion am Londoner Westend, eine absolute Megabox. Er hat also viel Presse. Und als das dann mit dem Namen Breivik kombiniert wurde, gab es einen dummen Boulevard-Aufschrei.

STANDARD: Ein Mann schießt in eine Menschenmenge. Kann man für diese Perspektive Argumente finden?

Gray: Stücke fragen immer nach Empathie, Theater trainiert den Empathiemuskel. Kein Mensch wird die Tat gutheißen können. Und dennoch gibt es keine einfache Antwort. Wir müssen sehen, dass es Menschen gibt, die sich aufgefordert sehen, so zu handeln. Ich selbst bin sehr gespalten. Breivik beklagt in seinem Manifest, dass niemand in Europa gefragt wurde, ob er/sie Massenmigration möchte. Das stimmt ja. Die Briten - und damit meine ich die weiße europäische Bevölkerung - fühlen Schuld, die aus der Imperialzeit herrührt. Deshalb möchten und müssen sie alle in ihrem Land willkommen heißen. Als gut ausgebildeter Mittelschichtmensch kann man den Multikulturalismus ja genießen. Ist doch nett, in ein indisches Restaurant zu gehen. Aber für Menschen, die existenziell zu kämpfen haben, ist das eine ganz andere Geschichte, da gibt es Bedrohungsgefühle. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD, 20.11.2013)