Wissenschafter untersuchen die Textform Biografie am Beispiel von Thomas Bernhard und von Facebook.

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Jeder Mensch hat eine Biografie. Jedoch ist nicht jedem vergönnt, dass das eigene Leben irgendwann zwischen zwei Buchdeckeln zusammengefasst vorliegt. Aber es ist ohnehin fraglich, ob die nachgelieferte Lebensbeschreibung sich mit der tatsächlichen Vita deckt. Schließlich betrachtet jeder Biograf seinen Gegenstand mit einer eigenen Perspektive: Somit ist das, was Rekonstruktion sein will, bereits Interpretation.

Am Wiener Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Theorie der Biografie beschäftigt man sich daher eingehend mit dieser Problematik und untersucht, wie sich diese Textform im Laufe der Zeit gewandelt hat. 2005 wurde das Institut gegründet, wo fortan an Biografien verschiedener Autoren von Hugo von Hofmannsthal bis Thomas Bernhard gearbeitet wurde.

Jedoch versteht sich die Forschungseinrichtung nicht als bloße wissenschaftliche Schreibfabrik für Biografien, wie der stellvertretende Direktor Tobias Heinrich darlegt: "Unser Anliegen ist die Kombination von biografischer Praxis und der methodischen Reflexion von Theorie und Geschichte der Biografie."

So schreiben die Wissenschafter nicht nur selbst Biografien, sondern setzen sich dabei auch damit auseinander, wie sich diese Gattung definiert, wo ihre Grenzen liegen und wie historische Prozesse sie verändert haben.

Nicht unumstritten

Letztendlich geht es dabei um die Auseinandersetzung mit der Biografie als einer wesentlichen Methode der Literaturwissenschaft. Auf diesem Feld ist die Untersuchung schriftstellerischen Arbeitens in Form von Lebensbeschreibungen eine wesentliche Tätigkeit - die jedoch nicht unumstritten ist.

Schließlich lag einer Literatenbiografie lange Zeit die Vorstellung vom Künstler als einsamem Genie zugrunde, das von der Gesellschaft unbeeindruckt seine Werke schafft. Im Zuge einer Neufokussierung auf allgemeine gesellschaftliche Zusammenhänge in den Kulturwissenschaften in den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde diese Konzeption dann aber weitgehend zurückgewiesen. "Es sollte nicht mehr der Einzelne im Mittelpunkt stehen, sondern die Gesellschaft als Ganzes", sagt Heinrich.

Autoren wurden daher auch als soziale Wesen verstanden, die wie jeder andere gesellschaftlichen Einflüssen unterliegen. "Die Leiden des jungen Werther" allein auf den Liebeskummer des jungen Goethe zurückzuführen erschien endgültig nicht mehr opportun.

Der französische Semiotiker Roland Barthes verkündete gar den "Tod des Autors": Da der Schriftsteller kein autonomer Produzent, sondern lediglich ein Sprachrohr kultureller Äußerungen sei, gelte es den Blick darauf zu richten, wie sich die verschiedenen Einflüsse im Text niederschlagen und wie die Rezeption des Lesers vonstattengeht.

Ende der Neunzigerjahre jedoch wurde der biografische Ansatz wiederentdeckt - obwohl im Zuge der Debatten um den Poststrukturalismus der traditionelle Subjektbegriff kritisiert und damit auch eine geschlossene Lebensbeschreibung nicht mehr als zielführend angesehen wurde. Heinrich: "Es ging nicht mehr darum, wie man das Leben einer historischen Persönlichkeit als Tatsache aufzeichnet, sondern auf welche Art und Weise eine Biografie im Nachhinein überhaupt erst konstruiert wird."

Wie etwas beschrieben wird

Wenn man der Auffassung ist, dass Biografien maßgeblich zu unserem Bild von der Wirklichkeit beitragen, stellt sich nicht nur die Frage, was, sondern auch wie etwas beschrieben wird. Daher treibt die Forscher auch die wesentliche Frage um, welche Auswirkungen zum Beispiel das Internet etwa in Form von Facebook auf Lebensschreibungen und biografisches Denken hat.

Heinrich erklärt: "Wir fragen uns, inwiefern man noch von Konzepten einer geschlossenen Biografie sprechen kann. Ist die Konzeption der Biografie als romanartiger dicker Wälzer, der ein Leben von der Geburt bis zum Tod linear beschreibt, noch gültig? Oder muss man angesichts dessen wie sich Menschen digital präsentieren, die Idee von fragmentierten Lebensgeschichten in den Blick nehmen, die nur noch aus - manchmal auch widersprüchlichen - Einzelteilen einer Identität bestehen?"

Heinrich empfindet die zeitgenössischen Entwicklungen aber nicht ausschließlich als Neuheit. Im Zuge seiner Untersuchung der Briefkultur des 18. Jahrhunderts sei er auf Parallelen zu sozialen Netzwerken im Internet gestoßen. Ein charakteristisches Element dieser weitverzweigten Korrespondenzen war die Mitteilung von Anerkennung - bloß statt einfach auf "like" zu klicken, wurde die Bestätigung erheblich ausführlicher formuliert.

Diese Kommunikation fand ebenso nicht nur zwischen Sender und Empfänger statt: Die Briefe wurden häufig gemeinsam geschrieben und gelesen und vom Adressaten vervielfältigt und weitergeleitet. Aber auch hier gab es bereits Bedenken hinsichtlich der eigenen Privatsphäre.

Goethe etwa monierte bei seinem Brieffreund Johann Lavater: "Hätte vielerlei zu sagen, wenn du nicht jedermann meine Briefe wiesest. Ich kann nicht leiden, dass meine Briefe einem Menschen das offenbaren, dem ich den zehnten Teil davon nicht mündlich sagen würde." (Johannes Lau, DER STANDARD, 20.11.2013)