Mund aufgemacht: Gülen-Anhänger und AKP-Parlamentarier Idris Bal.

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Bei so viel Provokation wäre vielleicht auch dem großmütigsten aller Parteichefs irgendwann der Geduldsfaden gerissen. "Uferlos, planlos, wankelmütig und kleinlich", nannte der Hinterbänkler Idris Bal zuletzt in einer Twitterbotschaft indirekt die Politik des türkischen Premierministers Tayyip Erdogan. Undemokratisch, autoritär, gegen das freie Unternehmertum gerichtet - das waren andere Einschätzungen, zu denen der Politikprofessor in den vergangenen Wochen gelangt war.

Erdogan machte nun kurzen Prozess und schickte den aufmüpfigen Parlamentsabgeordneten seiner konservativ-religiösen AKP vor den Disziplinarausschuss. Die Vorgabe: Parteiausschluss. An eine solche Abstrafung kann sich in elf Regierungsjahren niemand erinnern.

"Sie wollen uns eine Ohrfeige geben"

Selten war der Machtkampf zwischen den Anhängern Erdogans und des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen so offen ausgetragen worden wie in dieser Woche. Bal gilt als "Gülenist", und der jüngste Streit dreht sich um die von der Regierung angekündigte Schließung der Nachhilfeschulen in der Türkei. Die sind eine Bastion des Gülen-Netzwerks. Täglich prasseln nun kritische Kommentare aus dem Lager der Frommen auf die Regierung ein. "Unsere Brüder wollen uns eine Ohrfeige geben", stellte Erdogan Donnerstag bei einer Pressekonferenz fest.

Das Ausschlussverfahren gegen den 45-jährigen Bal, der vor seiner Wahl zum Abgeordneten 2011 unter anderem Dozent an der nationalen Polizeiakademie in Ankara war, regt die Fantasie der politischen Beobachter in Ankara und Istanbul an. Ist er Alleingänger oder Bauernopfer? Handelt Bal, der schon seit den Gezi-Protesten im vergangenen Sommer mit regierungskritischen Äußerungen auffiel, aus eigenem Antrieb oder wurde er von der Gülen-Bewegung ermuntert, die Konfrontation mit Erdogan zu suchen?

Den verwegensten Theorien zufolge wären die selbstzerstörerischen Ausritte des Abgeordneten Bal nur ein Indiz dafür, dass sich eine neue Machtgruppe gebildet habe - ähnlich wie in den 1990er-Jahren, als sich Erdogan und seine Gefolgsleute vom Premier Necmettin Erbakan absetzten und bald eine eigene Partei gründeten: die AKP.

Tatsächlich scheint Bewegung in das Personalkarussell zu kommen. Vizepremier und Regierungssprecher Bülent Arinç, der ebenfalls dem Gülen-Lager zugerechnet wird und der dritte Mann in der Parteihierarchie nach Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül ist, könnte nächste Woche seinen Rücktritt erklären, so wird erwartet.

Erdogan plant Regierungsumbildung

Arinç zöge damit die Konsequenzen aus den zunehmenden Meinungsverschiedenheiten mit Erdogan. Der bereitet angeblich für Anfang Dezember eine Regierungsumbildung vor. Wenigstens drei seiner Minister sollen bei den Kommunalwahlen im Frühjahr kandidieren - Verkehrsminister Binali Yildirim, Familienministerin Fatma Sahin und Justizminister Sadullah Ergin.

Fethullah Gülen, der sich nach dem vom Militär erzwungenen Rücktritt des Premiers Erbakan 1997 in die USA abgesetzt hatte, lässt über seine Medien Predigttexte verbreiten, die kaum verhohlen Erdogan kritisieren: "Wenn der Pharao gegen dich ist, bedeutet dies, dass du dem rechten Weg folgst ..."

Mit der Schließung der Nachhilfeschulen wolle die Regierung die Grenzen ihrer Macht testen, schrieb Taraf, eine gülennahe liberale Tageszeitung. Mehr als 3600 dieser Schulen soll es in der Türkei geben. 60.000 Lehrer sind dort beschäftigt. 1,5 bis vier Millionen Schüler besuchen die "dershane", meist zur Vorbereitung auf die Zulassung an den Universitäten. Ein Fünftel der Schulen - sie zählen zu den besten - führt die Gülen-Bewegung. (Markus Bernath aus Istanbul, DER STANDARD, 23.11.2013)