Die gelbe Fahne der Protestierenden.

Foto: Markus Bernath

Der besetzte Hörsaal.

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Prozess oder Protest?

Foto: Markus Bernath

Die Fahne ist zitronengelb und zeigt eine geballte Faust. Alexander Kiritsow, Student an der Nationalen Sportakademie, steht hoch auf dem Balkon der neobarocken Universität von Sofia, den entblößten Oberkörper im Novemberwind, und schwenkt die Fahne mit der Faust, die Fahnenstange mit beiden Händen haltend, in Richtung Parlament. Man hat hier einen gewissen Sinn für Ästhetik.

"Wir werden ein neues Bulgarien bauen", sagt der junge Mann, "nicht irgend so ein verspätetes Sowjetding. Wir werden Neuwahlen haben, kontrolliert von den Bürgern. Es wird keine Wahl sein, bei der die Leute nur ihr Kreuz machen und dann essen gehen." Kiritsow macht eine Geste, als ob er sich etwas in den Mund steckte. Der Zynismus der Bulgaren über ihre politische Klasse ist schon so groß, dass bei den jüngsten Parlamentswahlen im Mai erstmals auch Studenten in der Provinz ihre Stimmen verkauft haben sollen. 30 bis 50 Lewa - 15 bis 25 Euro - kostet das, so heißt es; bisher war das eine Praxis, die in den Ghettos der Roma-Minderheit im Land gepflegt wurde.

Aula besetzt

In der Großen Aula der Kliment-Ochridski-Universität von Sofia sitzen hier und da Studenten auf den alten Ledersesseln. Die Aula ist besetzt, Tag und Nacht, und die mächtige Eingangshalle darunter auch. Studenten mit Warnwesten, wie sie bei Verkehrsunfällen zu tragen sind, wachen über den Zugang. Man wartet auf den Sturz der Regierung. Die Revolution hat einen langen Atem.

Seit Mitte Juni protestiert ein Teil der bulgarischen Bevölkerung Tag für Tag in Sofia gegen die Koalitionsregierung von Sozialisten und Liberalen, mal sind es 20.000, an manchen Abenden keine 100 Demomstranten. Vor bald einem Monat haben die Studenten in der Hauptstadt ihren eigenen Feldzug gegen Premier Plamen Orescharski gestartet. Weil die Protestbewegung insgesamt doch nachgelassen habe, gibt Iwailo Dinew zu, Student der Kulturanthropologie und einer der Organisatoren der Uni-Besetzung. "Wir sind die Kinder des Übergangs, wir wollen unsere Zukunft gestalten", sagt Dinew. "Doch alles, was wir seit 1989 gesehen haben, ist von der Mafia und deren Politikern geschaffen worden." Jetzt muss endlich Moral einziehen, sagen die Studenten. Viele der Professoren unterstützen sie.

Geheimdienstchef musste abtreten

Der Auslöser für die Uni-Besetzung war einmal mehr Deljan Peewski, der übergewichtige 33-jährige Multiunternehmer, den Bulgariens Verfassungsrichter Ende Oktober in einer knappen Entscheidung wieder als Parlamentsabgeordneten eingesetzt hatten. Peewski, dessen Mutter den größten Medienkonzern Bulgariens führt, stolpert je nach politischer Konjunkturlage von einem öffentlichen Amt zum nächsten. Vergangenen Juni - die Regierung Orescharski war gerade zwei Wochen im Amt - wurde er im Schnellverfahren zum Geheimdienstchef ernannt. Die Empörung war so groß, dass er noch am nächsten Tag seinen Rücktritt erklärte.

Mit dem Sturz der Regierung ist es offensichtlich schwieriger. Gestützt auf die Rechtsextremen im Parlament, versucht sie die Proteste auszusitzen. "Es ist ein Prozess", sagt Iwailo Dinew, "und er wird so lange dauern, bis wir gewonnen haben." "Roter Müll!", rufen die Studenten jeden Abend bei den Umzügen vor Parlament und Regierungssitz, tragen Schilder mit aufgemalten Schweinsköpfen oder säubern, mit Müllsäcken bewaffnet, symbolisch die Orlow-Brücke weiter unten auf dem Zar-Oswoboditel-Boulevard, auf der sich zuvor die Anhänger der Sozialisten versammelt haben. Viel Platz für Nuancen ist nicht mehr in der politischen Diskussion in Bulgarien.

Und Neuwahlen, die vielleicht die mittlerweile ebenfalls kompromittierte Partei des Ex-Premiers Boiko Borissow zurück an die Macht bringen, sind die Lösung? "Okay, das fragt jeder", sagt eine Medizinstudentin in der Aula der Ochridski-Universität. "Aber wir können auch nicht einfach nichts machen angesichts dieser Regierung. Wir wollen, dass sich das Volk erhebt." (Markus Bernath, derStandard.at, 22.11.2013)