Einfach weg aus den eingefahrenen Bahnen, verschwinden. Die Konstante unserer Existenz ist es, dass wir im eigenen Körper stecken und meist auch in fixen Verhältnissen. Aber dem Wunsch nach einem anderen Dasein träumen so viele Menschen nach.

Davon geht Judith Kuckart aus, dies ist das zum Lesevergnügen ansprechend, zum Nachsinnen anregend gestaltete Thema ihres Romans Wünsche, dessen Titel sich wie die Prosa selbst als mehrdeutig erweist. Um eine Fluchtgeschichte vor Augen zu führen, siedelt sie sie im überschaubaren Milieu einer Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets an, und dort im mittleren sowie im wohlhabenden Bürgertum. Es gibt ein Warenhaus, ein Hallenbad, ein paar Regionalzüge halten hier, ein Bus fährt ins Hügelviertel. Man wohnt in einer alten Villa oder im Bungalow, die Espressomaschine ist ein soziales Kennzeichen. Man hat Gäste, man hat Gewohnheiten. Alles etwas klein, alles eingeübt und abgesichert, scheint es.

Jedes Jahr lädt der 65-jährige Jazz-Agent Karatsch am Silvesternachmittag die Freunde ein, um jenen alten Film anzusehen, in dem seine Frau Vera vor mehr als dreißig Jahren eine Rolle gespielt hat. Auf dem Set hatte die Heranwachsende damals "eine andere Art zu leben" geahnt. Nun jedoch wacht sie nachts auf und denkt, sie habe "das Wichtigste im Leben vergessen"; nun ist sie Lehrerin und fragt ihre Berufsschüler, wie sie sich ihr Dasein mit 30 vorstellen.

Wieder ist Silvester, Veras 46. Geburtstag. Im Hallenbad entwendet sie eine Tasche, somit Ausweis und Identität: "Plötzlich hatte Vera das Gefühl, sie könnte tatsächlich das Gesicht der anderen ausprobieren wie ein Kleid und dazu deren Leben, wie eine zweite Biografie." Ohne viel innerlichen Aufhebens fährt sie weg, nach London, das sie als Jugendliche mit ihrer sehr nahen Freundin Meret besucht hatte.

Meret ist die unzufrieden unangepasste, wilde Schwester von Friedrich Wünsche, einem reichen Manager, der das Warenhaus auf dem Stadtplatz geerbt hat und dabei ist, es als großen Tante-Emma-Laden in der Ästhetik der Fünfzigerjahre zu gestalten: das "Haus Wünsche". Vera, Meret und Friedrich sind gemeinsam zur Schule gegangen; sie bilden eine Dreiergruppe, um die sich die Figuren drehen. Alle sind aus einer, sich im Roman langsam erschließenden Vergangenheit miteinander verbunden, alle wollten sie aus dem Milieu weg, alle kommen sie zurück, ob gescheitert oder erfolgreich.

Hunger nach Sinn

Judith Kuckart gelingt es, mit wenigen Strichen und fein verknüpften Motiven (Kleidung, Schaufenster, Drehtür ...) das Ambiente einer Gesellschaft bis in plastische Nebenrollen zu schildern und den Protagonisten einen komplexen Charakter zu verleihen, der die Wünsche nach wesentlichen Veränderungen plausibel macht. Dazu ein kluger, adäquater Aufbau: Der erste und der letzte der drei Teile von Wünsche ist an einem Tag konzentriert, im Präsens, das die Erzählung direkt erscheinen lässt; der zweite erstreckt sich über neun Monate, in der Vergangenheitsform folgt er jeweils einer der sechs Hauptfiguren, zunächst Vera.

Ihr neues Leben in London ist armselig. Sie stiehlt, geht fremden Leuten in den Straßen nach, als wolle sie keine eigenen Wege mehr einschlagen. Bis sie pleite ist - und dann doch Hilfe und einen Platz findet, um ihrem "Hunger nach Sinn" nachzuspüren.

Inzwischen will auch ihr zwanzigjähriger Sohn Jo weg, er fährt zur See (da kommt natürlich Joseph Conrad ins Spiel). Inzwischen macht einer ihrer früheren Schüler über das altmodische neue Warenhaus einen Film, der den gleichen Titel trägt wie der Roman. Inzwischen dreht sich in der kleinen Stadt alles Mögliche ...

Bilder, starre und laufende, sind ein wesentliches Motiv. Sie halten die Menschen fest, die - jeweils auf andere Art - verschwinden wollten, und als "Film des Lebens" geben sie eine metaphorische Grundierung. "Die Storyline meines Lebens war einfach schlecht bisher", denkt Vera, "die Höhepunkte lagen zu früh, der große Wendepunkt kam fast zu spät", und niemand habe, wie auf dem Set, im richtigen Moment Stopp gerufen.

So schafft Kuckart eine dichte, packende Prosa mit faszinierenden Details und Sprachbildern. Einige Male sind allerdings die Übergänge von einer Perspektive zur anderen zu auffallend nach dem Reißverschlussprinzip gestaltet (ein Feuerwerk in London und das nächste Kapitel beginnt mit einem deutschen Feuerwerk), mitunter finden sich unnötig explizite Erklärungen und ein paar Verbindungen zwischen den Figuren wirken konstruiert (die Namensbrücke "Kennedy"). Jedoch entspricht dies dem Milieu: In einer Kleinstadt berühren sich die meisten Geschichten; man kennt sich, man kennt sich nicht.

Die Grundfragen bleiben: Wann und wie ist man erwachsen, wann und wie ist man alt? Bedeutet Alter nicht nur körperlichen Verfall, sondern auch Verschwinden anderer Möglichkeiten? Und was versäumt man im Leben? Judith Kuckart hat darüber einen feinen Roman geschrieben. Literarisch lässt er kaum Wünsche offen. (Klaus Zeyringer, Album, STANDARD, 23./24.11.2013)