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Der 22-jährige Magnus Carlsen schlägt Viswanathan Anand.

Foto: REUTERS/Babu

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Carlsen (re.) verlässt Indien als neuer Weltmeister.

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Chennai - Für Jaspal Singh, sportbegeisterter Fuhrunternehmer aus New Delhi, war es keine gute Woche. Am Montag hatte sich die indische Cricket-Legende Sachin Tendulkar nach 24 Jahren vom Spiel zurückgezogen, das Land trauerte. "Und jetzt noch das", sagt Singh lachend.

Am Freitag musste Schachweltmeister Viswanathan Anand (43) seinem Herausforderer Magnus Carlsen (22) im 68. Zug der zehnten Partie zum Remisschluss die Hand reichen. Die Geste glich einer Kapitulation, der Zeitpunkt ihrer Ausführung war das einzige, was Anand bei dieser Weltmeisterschaft noch bestimmen konnte. Durch drei Siege ohne Niederlage lag Carlsen uneinholbar in Führung. Der Norweger ist der 16. Weltmeister der Schachgeschichte.

Das Medieninteresse am Match in Chennai (Madras) war enorm, vergleichbar nur mit dem Wettkampf von Garri Kasparow gegen den IBM-Schachcomputer Deep Blue 1997 und Bobby Fischer gegen Boris Spasski 1972 in Reykjavik.

Dort, wo alles begann

Für viele Inder war die Weltmeisterschaft mit Anands Sieg über den Russen Vladimir Kramnik zu Beginn des 21. Jahrhunderts dorthin zurückgekehrt, wo alles begonnen hatte. Historiker sehen den Ursprung des königlichen Spiels in der indischen Schachvariante des Tschaturanga, wie es im Epos des Mahabharata beschrieben ist.  Als weit über das Spiel hinaus anerkannter Weltmeister zählt Anand zu den populärsten Indern, er verkörpert das moderne urbane Indien der Mittelschichten wie Singh, smart, leistungsbewusst und, wenn geht, erfolgreich.

Doch der mehr als 20 Jahre jüngere Herausforderer erwies sich in allen Belangen als überlegen. Die entscheidende Phase des auf zwölf Partien angesetzten Duells ereignete sich am Ende der ersten Halbzeit. Carlsen gewann Partie fünf und ging in Führung. Alle – bis auf Ex-Weltmeister Garri Kasparow – rechneten mit einem schnellen Erholungsremis in der nächsten Partie, doch Carlsen witterte Blut, spielte dynamisch und erhöhte seine Führung im Endspiel der sechsten Partie.

Nach den beiden Niederlagen war Anand gebrochen. Bei allem Selbstbewusstsein eines Weltmeisters wusste er, dass er gegen den in Hochform befindlichen Carlsen kaum eine Möglichkeit hatte zu bestehen.

Im Trockenen

Zu hoffen war einzig auf eine plötzliche Ermüdung oder Nervosität Carlsens kurz vor dem Ziel. Carlsen hat keine Matcherfahrung, aber er erwies sich auch psychologisch als unantastbar. Unbeteiligt fast schläfrig erschien er am Brett und agierte doch in Wahrheit das ganze Match hindurch hochkonzentriert. "Es geht beim Schach", so der Norweger über sein Spielverständnis, "wie im Leben immer um Kampf und um Möglichkeiten. Man hat immer Möglichkeiten und kann immer Probleme stellen." Ein Pragmatiker, der nicht nach Absolutem strebt und die eigenen Schwächen lächelnd eingesteht, ist schwer zu erschüttern.

Dagegen teilte Anand das Schicksal vieler Weltmeister (und Künstler): Sein Spiel wurde flach, es verlor zusehends an Magie. Dennoch ein letztes Aufbäumen des Inders in der neunten Partie: Mit zwei Punkten in Rückstand wechselte Anand die Eröffnung, es ergab sich eine Nimzoindische Verteidigung. Carlsens Vormarsch am Damenflügel begegnete Anand mit einer starken Initiative gegen Carlsens König, eine schwer kalkulierbare Position mit verteilten Chancen entstand, eigentlich das beste, was der Titelverteidiger in den letzten beiden Wochen am Brett erreicht hatte. Dennoch überschritt Carlsen an keinem einzigen Punkt die Grenze zum Unentschieden, der unter Gewinnzwang stehende Anand überzog für einen Moment, Carlsen konterte genial und erbarmungslos. Eine neue Epoche im Schach hat begonnen. (ruf & ehn, DER STANDARD, 23./24.11.2013)

Ergebnis der 10. Partie:

Weiß: Magnus Carlsen (NOR) - Schwarz: Viswanathan Anand (IN) 0,5:0,5

1.e4 c5; 2.Sf3 d6; 3.Lb5+ Sd7; 4.d4 cxd4; 5.Dxd4 a6; 6.Lxd7+ Lxd7; 7.c4 Sf6; 8.Lg5 e6; 9.Sc3 Le7; 10.0-0 Lc6; 11.Dd3 0-0; 12.Sd4 Tc8; 13.b3 Dc7; 14.Sxc6 Dxc6; 15.Tac1 h6; 16.Le3 Sd7; 17.Ld4 Tfd8; 18.h3 Dc7; 19.Tfd1 Da5; 20.Dd2 Kf8; 21.Db2 Kg8; 22.a4 Dh5; 23.Se2 Lf6; 24.Tc3 Lxd4; 25.Txd4 De5; 26.Dd2 Sf6; 27.Te3 Td7; 28.a5 Dg5; 29.e5 Se8; 30.exd6 Tc6; 31.f4 Dd8; 32.Ted3 Tcxd6; 33.Txd6 Txd6; 34.Txd6 Dxd6; 35.Dxd6 Sxd6; 36.Kf2 Kf8; 37.Ke3 Ke7; 38.Kd4 Kd7; 39.Kc5 Kc7; 40.Sc3 Sf5; 41.Se4 Se3; 42.g3 f5; 43.Sd6 g5; 44.Se8+ Kd7; 45.Sf6+ Ke7; 46.Sg8+ Kf8; 47.Sxh6 gxf4; 48.gxf4 Kg7; 49.Sxf5+ exf5; 50.Kb6 Sg2; 51.Kxb7 Sxf4; 52.Kxa6 Se6; 53.Kb6 f4; 54.a6 f3; 55.a7 f2; 56.a8D f1D; 57.Dd5 De1; 58.Dd6 De3+; 59.Ka6 Sc5+; 60.Kb5 Sxb3; 61.Dc7+ Kh6; 62.Db6+ Dxb6+; 63.Kxb6 Kh5; 64.h4 Kxh4; 65.c5 Sxc5 - Remis

Endstand: Carlsen - Anand 6,5:3,5