George Orwells 1984 wird gerne bemüht, um den Zustand vollständiger Überwachung zu beschreiben. Wenn jeder Aufenthaltsort, Dauer und Inhalt von Konversationen und selbst alle Kontakte abrufbar sind, markiert das theoretisch den Übergang zum Überwachungsstaat, wie ihn Orwell 1948 beschrieben hat. Doch was im 21. Jahrhundert technisch und rechtlich möglich ist, geht weit über diese Vorstellungen hinaus.

In den vergangenen Monaten wurde durch den ehemaligen ­Geheimdienstmitarbeiter Edward Snow­den ansatzweise bekannt, in welchem Ausmaß Menschen auf der ganzen Welt ausspioniert werden. Jeden Tag und zu jeder Stunde. Doch nicht nur Regierungen gieren nach Daten – auch der Handel will von den neuen technischen Möglichkeiten profitieren und seinen Kunden einen Schritt voraus sein.

Goldmine Datenanalyse

Eine legendäre Geschichte in der "New York Times" vom Vorjahr macht deutlich, wohin die Reise geht: Über das Kauf- und Onlineverhalten einer Schülerin folgerte die Statistikabteilung des Einzelhandelsriesen Target auf eine Schwangerschaft im zweiten Trimester – ein Durchbruch für die Marktforschung und ein Drama für die Familie. Sie erfuhr nur vom Nachwuchs, weil Target umgehend Geschenkgutscheine und Glückwunschkarten versandte.

"Es ist vielmehr vergleichbar mit Kafkas Process als mit der Orwell'schen Welt", meint Markus Huber. "Es werden so viele Daten gesammelt, dass überhaupt nicht durchschaubar ist, zu welchem Zweck. Und eines Tages muss man sich vielleicht für etwas verteidigen, ohne genau zu wissen, wofür man angeklagt wird."

Der IT-Security-Spezialist forscht am SBA Research, dem ­österreichischen Kompetenzzen­trum für Sicherheitsforschung. Ihn interessiert besonders, was mit persönlichen Informationen passiert, die über Social-Media-Kanäle oder Apps in Umlauf geraten. "Die wenigsten Menschen verstehen, dass ihre Daten zu anderen Firmen wandern. Es wird das ganze soziale Umfeld überwacht", erklärt er.

Seine Kollegen aus dem Iran haben ihm erzählt, wie sie sich bei ihrer letzten Einreise vor den Augen der Beamten auf Facebook einloggen mussten. Dann wurde kontrolliert, welche Initiativen sie unterstützen und mit wem sie befreundet sind.

Wenn Regime an die Macht kommen, die an persönliche Freiheit andere Maßstäbe anlegen, als es der sorglose Bürger heute gewohnt ist, existiert die Infrastruktur für Missbrauch bereits. Das Argument "Ich habe nichts zu verbergen"  verpufft in dem Augenblick, ab dem Datenschutz zum kostbaren Gut wird und nur noch unter großem Aufwand geschützt werden kann.

Wer eindeutig von den Enthüllungen rund um Abhörskandale und die globale Überwachungslust profitiert, ist die IT-Branche. Staaten wie Unternehmen wollen massiv aufrüsten, Ökonomen prophezeien Milliardenumsätze in den kommenden Jahren für Entwickler von Spionage- und Sicherheitssystemen.

Geschäft mit der Cyber-Angst

In diesem Jahr soll das Geschäft mit der Cyber-Angst weltweit 67 Milliarden US-Dollar abwerfen, schreibt das Wirtschaftsmagazin "Brand eins". Verloren haben hingegen die Cloud-Dienste, wo Da­ten nur mehr onlinebasiert gespeichert werden. Überwachungstechnologie und IT-Security sind weitgehend Insidergeschäfte; weder die Industrie noch die Kunden wollen sich in die Karten schauen lassen.

Der in dieser Woche veröffentlichte "Surveillance Industry Index"  der Menschrechtsorganisation Privacy International dokumentiert erstmals eine Übersicht. 338 Firmen in 36 Ländern werden angeführt, die weitgehend Geheimdienstmethoden am Weltmarkt anbieten. Das Anzapfen von Glasfaserkabeln oder Ausspähen von E-Mail-Passwörtern ist nur eine Frage des Geldes. Ob es nun um polizeiliche Ermittlungen geht oder die Neugierde im Einzelhandel – das Prinzip ist das gleiche: so viele Daten wie möglich aus verschiedenen Quellen sammeln, denn Speicherplatz ist billig. (Julia Herrnböck, DER STANDARD, 23.11.2013)