Wien - Im Grunde lässt sich aus jedem Menschen etwas herauspressen. Den armen Soldaten Woyzeck setzt man auf Erbsen. Prompt fallen ihm die Haare aus. In Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck (1836) muss die geschundene Kreatur einem Hauptmann die Haare scheren. Im Wiener Volkstheater sind die Haare bereits Mangelware.
Regisseur Michael Schottenberg hat einer Intuition gehorcht. Seine Woyzeck-Fassung basiert auf der 13 Jahre alten Robert-Wilson-Version. Deren Trick besteht in einem Kulturtransfer. Sie zerlegt Büchners Szenen in lauter böse, gemächlich gegen Wände stolpernde Lieder. Geschrieben hat sie Tom Waits im Verein mit Kathleen Brennan, seiner Frau. Sie klingen auf beinah schon verblüffende Weise nach Schwarzer Romantik, nach Ausdruckstanz im Schlachterkittel.
Mit Filz umwickelte Schlägel pochen auf Schädelskelette. "Misery ist the River of the World!", gurgelt Waits. Und man muss sich tatsächlich die Augen reiben: Es ist gar nicht Waits, sondern der Burgtheater-Statist Haymon Maria Buttinger, dem Schottenberg die Titelrolle anvertraut hat. Die Idee ist brillant.
Schottenberg setzt die Kenntnis des Dramenfragments einfach voraus. Ein Stück Vieh wird besichtigt. Nachdem ein kahlköpfiger Ausrufer (Thomas Bauer) ein paar Losungen gebellt hat, segelt der Vorhang nach oben (Bühne: Hans Kudlich). Woyzecks Lebenswelt ist ein Gefängnis aus Nietenblech. Fünf Glühbirnen baumeln herunter, Buttinger grunzt in ein Mikrofon (musikalische Leitung: Imre Lichtenberger-Bozoki). Brecht und Weill hätten mit diesem Schlachthof ihre sozialistische Freude gehabt.
Die Figuren aber segeln aus dem Schnürboden ins Elend hinab. Sie sind Teil des kollektiven Unbewussten (wenn es so etwas gibt). Sie bilden das letzte Aufgebot, den Rest des Ausbeutungsrätsels. Zu ihren Füßen liegen Dreck und Erde, ihre Mäuler hängen schief. Wenn Woyzeck zusammen mit Andres (Tany Gabriel) für den Hauptmann Stecken schneidet, dann kuscheln sich diese Ärmsten der Armen hilflos aneinander. Das Elend ist untilgbar. Schottenberg hat es noch einmal überhöht.
Marie (Hanna Binder) bildet in dieser Gemeinschaft der Höllenbewohner den blinden Fleck. Keiner gönnt dem anderen etwas. Wenn Woyzeck der Hauptmann-Puppe (Thomas Kamper) Rede und Antwort steht, fließt der Harn in die Freizeithose. Marie aber, die verstrubbelte Proletarierin, ist "Coney Island Baby": ein prächtiger Witz.
Der Narr aus Woyzeck kehrt wieder als Albino in Babywindeln (Matthias Mamedof). Er erzählt das unendlich traurige Märchen vom Mond, der sich bei näherer Betrachtung als "ein Stück faul Holz" herausstellt. Aus dem nämlichen Holz sind auch die Menschen dieser Aufführung geschnitzt.
Schottenbergs Kummergesellschaft ist das Material ausschweifender Albträume. Die vor Geilheit zuckende Nachbarin (Susa Meyer), der in seinem Körperpanzer erstarrte Tambourmajor (Christoph F. Krutzler). Sie alle gehören einer flackernden Welt des Zitats an. Sie sind Puppen, mit dem grausigen Irrtum, aus Fleisch und Blut zu bestehen. Woyzeck schlägt sich mit der Stuhllehne vor die Stirn. Das macht es nicht besser. Aber dafür haben diese Verlorenen - Woyzeck ersticht Marie äußerst zärtlich - auch diese wunderbare Musik.
Tom Waits' Büchner-Platte Blood Money ist im gut sortierten Fachhandel erhältlich. Woyzeck nach Georg Büchner ist im Wiener Volkstheater die nächsten Wochen über zu sehen. Was für ein Glück. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 25.11.2013)