Niemand hatte die Welle kommen sehen, als sie am 17. November 2012 über Frankreich hereinbrach. Zehntausende gingen in Paris gegen das Homo-Ehe-Gesetz von Präsident François Hollande auf die Straße, und in den Folgemonaten organisierte die wertkonservative Komikerin Frigide Barjot drei weitere Monsterdemonstrationen mit bis zu einer Million Teilnehmern. Hollande hielt trotz Protesten an seinem Wahlversprechen fest: Im April dieses Jahres verlieh die Nationalversammlung gleichgeschlechtlichen Paaren erstmals das Eherecht.

Doch auch danach demonstrierten die Gegner noch zu Hunderttausenden. Es war das erste Zeichen, dass sich das katholisch-konservative Frankreich nicht so schnell geschlagen geben wollte. Und dass es vielen Protestlern weniger um die Homo-Ehe ging, sondern um den Kampf gegen "Ultraliberalismus der Sitten", wie ein 50-jähriger Unternehmer kürzlich in der katholischen Zeitung La Croix erklärte.

Das Thema Homo-Ehe, das nur eine Minderheit direkt betrifft, wirkte wie ein allgemeiner Weckruf für die konservativen Franzosen. Darunter sind auch radikale Gruppen, Traditionalisten sowie Rechtsextremisten, aber vor allem eine Masse gutbürgerlicher Katholiken, die bisher nie einen Fuß zu Demonstrationszwecken auf die Straße gesetzt hatten.

Sie alle zeigten, dass Frankreich nicht nur ein revolutionäres und laizistisches Erbe hat, sondern auch eine tief religiöse Seite. Da die konservative Bewegung normalerweise sehr diskret ist, unterschätzte Hollande diese moralische Opposition. Gegen die Homo-Ehe offenbarte sie sich auf unerwartete und spektakuläre Weise. Und jetzt ist sie nicht mehr bereit, sich in die Provinz zurückzuziehen. Bei den jüngsten Steuer- und Sozialrevolten in der Bretagne und anderswo machen auch Gegner der Homo-Ehe an vorderster Front mit. Zwar hat sich die Bewegung "Demo für alle" in einen radikaleren Flügel namens "französischer Frühling" und Barjots Bewegung "Zukunft für alle" gespalten. Dafür hat Letztere eine Charta ausgearbeitet, die von den Parteien Stellungnahmen zu Themen wie Leihmütter, Gender-Debatte oder Vaterschaftsurlaub verlangt.

Je nachdem wird Barjot Wahlempfehlungen abgegeben. Auch wenn die Rechte die Schlacht um die Homo-Ehe verloren hat, trumpft sie im Krieg der Werte auf. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 26.11.2013)