Die Jagdspinne Cupiennius salei lebt in Süd- und Mittelamerika, wo sie sich tagsüber in Bromelien oder Bananenstauden versteckt und erst mit Einbruch der Nacht auf Jagd geht: Sie lauert vorbeikommenden Insekten auf. Dann schießt sie hervor und überwältigt die Beute mit Gift.
Das klingt nicht nach einem besonders einfach zu haltenden Labortier, doch Axel Schmid vom Department für Neurobiologie der Universität Wien, der sich seit 20 Jahren mit den Tieren befasst, beruhigt: "Wenn sie nicht jagen, sind sie gemächliche Tiere. Ihr Gift kann dem Menschen nichts anhaben. Außerdem sind sie leicht zu züchten und zu halten." Da Cupiennius salei nachtaktiv ist, nahm man lange Zeit an, ihr visuelles System sei nicht besonders ausgeprägt und spiele eine untergeordnete Rolle. Schmid und seine Mitarbeiter überprüften diese Annahme in den vergangenen Jahren durch ausgiebige Tests. Dafür setzten sie die Spinnen in eine große weiße Arena, an deren Wand sie "Objekte" – vornehmlich schwarze Streifen unterschiedlicher Größe – befestigten. Denn die Spinnen verstecken sich gerne im Dunkel.
Sitzen sie also auf einer großen weißen Fläche, sollten sie einen dunklen Fleck aufsuchen, wenn sie einen sehen, und wenn ihnen zwei dunkle Flecken geboten werden, die sich in ihrer Form unterscheiden, sollten sie bevorzugt denjenigen ansteuern, der ihnen attraktiver erscheint. Dabei stellte sich heraus, dass die Tiere höheren bzw. breiteren schwarzen Streifen den Vorzug vor niedrigeren bzw. schmäleren gaben.
Keine Rolle spielte Farbe oder Natürlichkeit des Streifens: Der Schattenriss einer Bromelie erhielt genauso viel Zulauf wie eine echte Bromelie, und als die Wissenschafter dem Schattenriss der Pflanze ein gleich großes schwarzes Rechteck gegenüberstellten, bevorzugten die Spinnen sogar Letzteres.
Dankbar für Schlamperei
Für Überraschung sorgten die Versuchstiere, als sie sich zwischen zwei vermeintlich identischen Streifen zu 90 Prozent für einen bestimmten entschieden. Wie sich herausstellte, war das ungeliebte "Objekt" irrtümlich ein wenig schräg montiert worden. "Das war eigentlich eine Schlamperei", erinnert sich Schmid, "aber wir sind bis heute dankbar dafür. So wussten wir plötzlich: Sie können Schräglagen wahrnehmen." Offenbar werden schief stehende Versteckbäume gemieden. Wie die meisten Spinnen hat auch Cupiennius salei acht Augen. Nur zwei davon, die Hauptaugen, sind mit Muskeln versehen und daher beweglich, während die restlichen drei Paare, die Nebenaugen, starr sind. Diese können wahrnehmen, dass sich ein Objekt bewegt, aber nicht, wie es aussieht, das erledigen die Hauptaugen. "Es gibt vier Parameter, die beim Sehen eine Rolle spielen können: Farbe, Form, Bewegung und Entfernung", sagt Schmid. "Beim menschlichen Auge wird die Information aus der Netzhaut erst im Hirn in diese Bestandteile auseinanderdividiert."
Was die Wahrnehmung von Entfernung betrifft, ist sie bei wirbellosen Tieren selten ausgeprägt. Cupiennius scheint dazu imstande zu sein: Bietet man den Spinnen ein näher und ein ferner scheinendes Objekt, bevorzugen sie eindeutig das nähere. Das ist besonders bemerkenswert, weil sie nicht stereoskopisch sehen können. Die Spinnen lösen das Problem, indem sie auf ein anvisiertes Objekt im Zickzack zugehen. Der damit erzeugte Effekt nennt sich Bewegungsparallaxe und lässt sich nachvollziehen, indem man sich seine eigene Hand in einiger Entfernung vors Gesicht hält: Bewegt man den Kopf nun seitlich mit Blick auf die Hand, scheint sich diese gegenüber dem Hintergrund zu bewegen. Diese scheinbare Bewegung dürften die Tiere nutzen, um das nähere Objekt von anderen zu unterscheiden.
Mit dieser Fähigkeit befassen sich Schmid und seine Mitarbeiter derzeit im Zuge eines vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Projekts. Zu diesem Zweck bedienen sie sich einer anderen Art von Arena, nämlich eines "Laufkompensators": eine 60 Zentimeter durchmessende Plastikkugel, die so gelagert ist, dass sie sich in alle Richtungen frei drehen kann.
Darauf wird eine Spinne gesetzt, deren Laufbewegungen durch zwei an der Kugel montierte Motoren so ausgeglichen werden, dass das Tier endlos gehen kann, ohne vom Platz zu kommen. Über eine Videokamera und nachfolgende Auswertung lässt sich feststellen, wie stark die beiden Motoren die Bewegung des Tieres ausgleichen müssen. Daraus wird der Weg berechnet, den es wirklich genommen hätte.
Video-Copyright: Martin Streinzer und Max Hofbauer
Virtuelle Umgebung
Neu an der Versuchsanordnung ist, dass Schmid und seine Mitarbeiter Max Hofbauer und Martin Streinzer die Kugel mit einer 360-Grad-Leinwand aus weißem Chintz umgeben haben, auf die mittels vier kleiner Beamer beliebige Bilder projiziert werden können. Auf Basis existierender Software wurde von Anton Fuhrmann vom Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung (vrVis) eine virtuelle Umgebung geschaffen, in der die Spinnen in eine simulierte interaktive Umwelt gebracht werden können.
Nun können die Forscher den Spinnen den Eindruck vermitteln, dass eine von vier angebotenen dunklen Säulen immer größer wird, wenn sie sich auf sie zubewegen, während die anderen drei kleiner werden. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein. Eines weiß Schmid schon jetzt: "Die Spinnen sind viel flexibler in ihrem Verhalten als die meisten anderen Insekten." (Susanne Strnadl, DER STANDARD, 27.11.2013)