Wien - Es ist ja nicht so, dass Harald Walser als Gesamtschulbefürworter vom Himmel gefallen wäre. Im Gegenteil, der Mann war, bevor er 2008 Bildungssprecher der Grünen wurde, Direktor eines Gymnasiums. Noch dazu eines, das "nur" die "Langform" mit acht Jahren anbietet. Walser leitete in Vorarlberg das Gymnasium Feldkirch. Gegründet 1649.
Damals war die Welt noch übersichtlich. Jesuiten als Gründungsväter, die Stadt Feldkirch als Finanzier. Unterrichtssprache Latein. Zwei Lehrer, 30 Schüler. Doch dann, unter Maria Theresia, drohte erstmals Ungemach. Es gab Aufnahmeprüfungen in Religion, Lesen, Schönschreiben, Latein und Rechnen, ab 1785 auch noch Schulgeld. Da verließen so viele Schüler das Gymnasium, dass es vor der Auflösung stand.
Nicht die erste Bedrängnis
Jetzt sind die Gymnasien wieder in Bedrängnis. Bei den Koalitionsverhandlungen geistern "Aufnahmeprüfungen" und die Idee, nur noch spezialisierte Langformen zu erhalten und alle anderen AHS-Unterstufen in Neue Mittelschulen umzuwandeln, herum. Das wäre, wenn es so käme, das Ende des Gymnasiums Feldkirch.
Wäre das denn ein Problem? Der Untergang des gebildeten Abendlandes? Oder ist ein vierjähriges Gymnasium auch noch immer ein Gymnasium? Beim Standard-Montagsgespräch, moderiert von Gerfried Sperl, wurde im Haus der Musik darüber diskutiert: "Brauchen wir Gymnasien?"
Walsers Antwort war - er gab zu, "mühsam angeeignet durch die Kraft des Faktischen" - klar: "Auch ich bin ein vehementer Befürworter des Gymnasiums - aber es sagt kein Mensch, dass das acht Jahre dauern muss." Ja, das Gymnasium sei ein "wichtiger Schultyp", aber noch wichtiger ist für den Grünen ein vorgelagertes Problem: "Die Trennung mit neun Jahren ist viel zu früh", sagte der karenzierte AHS-Direktor, ziemlich genervt vom politischen Verharren in der "ideologischen Sackgasse". Schule müsse ein Ort sein, "wo die gesamte Gesellschaft abgebildet ist" - dieses "alle" beinhalte zum Beispiel auch behinderte Kinder, betonte Walser.
"Strukturschrauben"
Auch sein Berufskollege Wilhelm Zillner, der in Oberösterreich das Gymnasium Kirchdorf leitet und Sprecher der AHS-Direktoren ist, stört sich an der politischen Debatte, bei der sich "zwei Parteien bekriegen, und nichts geht weiter", nur so viel: "Wir drehen ununterbrochen an Strukturschrauben, die das meiste kosten, aber am wenigsten bringen." Der Kampf für oder gegen das Gymnasium sei "zu einer ideologischen Glaubensfrage geworden, und die werden nie mit Vernunft geführt."
Von Aufnahmeprüfungen halte er "gar nichts, auch nicht von Elitisierung der Gymnasien, aber ich halte viel vom Gymnasium", betonte Zillner. Wer meine, durch die Abschaffung dieser "hervorragenden Schule" das System besser zu machen, irre. Er glaube an "die Verschiedenheit der Kinder" und möchte ihnen genau deshalb, so wie er nicht allen Kindern dasselbe Instrument verordnen würde, "nicht nur eine Schule zumuten".
"Aber zwei verschiedene?", konterte Bildungspsychologin Christiane Spiel von der Uni Wien dieses Vielfaltsargument. Und Walser sekundierte: "Vielfalt? Sie reden von Zweifalt."
Die schlechten fünf Prozent
Dem schloss sich Wolfgang Pfeil vom Bundesverband der Elternvereine an mittleren und höheren Schulen insofern an, als er "die Förderung des einzelnen Kindes als grundsätzlichen pädagogischen Auftrag der Schule" betonte und in diesem Zusammenhang nicht nur mehr Unterstützungspersonal für die Lehrer, sondern auch genügend gute Ganztagsschulangebote urgierte, gleichzeitig aber nachdrücklich für den Erhalt des Gymnasiums eintrat. Daneben könne man gern etwas "anderes" machen wie die Neue Mittelschule: "Ein Punkt, der gut ist." Ihn beschäftigten aber die "vier bis fünf Prozent Lehrer, die eigentlich nicht an die Schule gehören", weil sie ungeeignet sind, viel mehr als das Gymnasiumsgerangel.
Überhaupt gäbe es in der Bildungspolitik viel mehr als die Gymnasiumsfrage, sagte auch Professorin Spiel, die der Politik rät, "statt einzelner Maßnahmen das Ganze anzuschauen: Zuerst Ziele definieren, dann Maßnahmen überlegen und schauen, für welche Kinder sie gut sind und welchen sie schaden." Sie sei nicht für die Abschaffung der Gymnasien, aber eins sei durch viele Studien belegt: "Diese frühe Trennung ist eines der Hauptprobleme." Weil sie dem, was Spiel als "Ziele der Schule" formulierte, entgegenarbeitet: "Wir wollen Potenziale der Kinder fördern und Nachteile ausgleichen."
Sie meinte alle Kinder. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 27.11.2013)