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Fellmer freut sich über den Überfluss der anderen.

Foto: Reuters/Bensch

Diese Turnschuhe! Knallgrün, abgelatscht und mit jener Straßenpatina behaftet, die in Berliner Clubs als schick gilt. Kein Türsteher würde es wagen, Raphael Fellmer abzuweisen. Doch derlei Überlegungen sind dem 30-jährigen Berliner völlig fremd. Die Schuhe schauen so aus, weil er sie vor acht Jahren, als sie schon gebraucht waren, geschenkt bekam und seither häufig trägt.

"Alt, aber gut", sagt Fellmer und grinst. Das Gleiche gilt für seine Kleidung, sein Fahrrad, für überhaupt jedes Eigentum, das andere sich teuer erkaufen. Denn er lebt seit drei Jahren ohne Geld. Nicht ohne viel Geld oder gerade noch mit dem Nötigsten, sondern schlicht und einfach ohne einen einzigen Cent. "Ich bin verschont vom Mammon", sagt er, und es klingt völlig normal, gar nicht pathetisch.

Begonnen hat alles vor drei Jahren, nachdem er in Den Haag sein Europastudium abgeschlossen hatte. Fellmer reiste mit Freunden per Anhalter nach Mexiko. Er hatte kein Geld, kam aber trotzdem immer weiter. Über den Atlantik nahmen ihn wohlhabende Italiener mit dem Segelboot mit, in Brasilien saß er hinten auf alten Lastwagen, er schlief bei der Feuerwehr und in Schulen, von Restaurants nahm er sich das, was ohnehin übrig war. Im Gegenzug bot er seine Arbeitskraft an, putzte, räumte auf und reparierte.

Nach Berlin kehrte er buchstäblich bereichert zurück - mit seiner schwangeren Freundin Nieves und einem Vorhaben: "Das Leben ohne Geld war so bereichernd, dass ich es auch in Deutschland versuchen wollte."

Reste essen im Restaurant

Leicht ist es anfangs nicht, denn die deutsche Mentalität ist nicht so locker wie jene in Südamerika. "Warum arbeitest du nicht, du fauler Hund", wird er gefragt, wenn er in Restaurants um die Reste bittet, die ohnehin im Mülleimer landen würden.

Doch Fellmer ist überzeugt: In Deutschland herrscht ein solcher Überfluss, eine derartige Verschwendung, dass er, seine Freundin und die mittlerweile zweijährige Tochter Alma auch ohne Geld ihr Auskommen finden. Die jungen Eltern beginnen systematisch Bioläden abzuklappern und Lebensmittel zu "retten". Daraus wird die Bewegung www.lebensmittelretten.de, bei der sich mittlerweile in ganz Deutschland 700 Menschen engagieren. "Foodsaver" holen übriggebliebene Lebensmittel bei Betrieben ab, verteilen sie an Vereine, soziale Projekte und ernähren sich davon auch selbst.

Aussuchen ist dabei nicht immer möglich. Manchmal sitzt Fellmer in seiner bescheidenen, aber kostenlosen Bleibe im Berliner Friedenszentrum Martin-Niemöller-Haus und hätte natürlich Lust auf ein bestimmtest Biojoghurt. Aber wenn gerade dieses nicht gerettet wurde, gibt es eben keines. Dennoch sagt er: "Ich fühle mich nicht in der Verzichtsrolle. Denn ich bin dankbar für alles, was kommt."

Neulich hat er Unmengen Nudeln ergattert. Dann gab es eben tagelang Nudelgerichte. Es ist, sagt Fellmer, alles eine Frage der Herangehensweise. Ob er nicht ein Schmarotzer sei, wird er oft gefragt. Denn schließlich lebe er von dem, was andere erwirtschaftet haben. Das sieht er anders. "Ich nehme ja nur, was ohnehin übrigbleibt. Niemand muss meinetwegen auf etwas verzichten", sagt er. Und außerdem hat er ja seine Mission, nämlich Menschen Ressourcenverschwendung vor Augen zu führen.

Mittlerweile ist daraus ein kleines Business geworden. Fellmer tritt in Talkshows auf, hat ein Buch geschrieben, berät Supermärkte, hält Vorträge in Schulen und vor Managern. Natürlich lässt er sich nicht bezahlen. Immerhin nimmt er jetzt Zugtickets an. Denn die Nachfrage ist so groß, dass er die Termine nicht mehr per Fahrrad und per Anhalter schafft.

Eine Botschaft unters Volk zu bringen ist ihm besonders wichtig: "Im Geldstreik zu sein ist ein Praktikum im Fach Menschlichkeit." Zunächst seien zwar viele misstrauisch, wenn er seine Lebensweise erkläre. Doch bei jedem Tauschgeschäft kommt er mit anderen ins Gespräch. Und Fellmer ist überzeugt: "Wenn eine Dienstleistung bloß gegen Geld geboten wird, dann entsteht daraus viel weniger." (Birgit Baumann, DER STANDARD, Portfolio, Dezember 2013)