Student Thomas Herndon entlarvte die meistzitierte Arbeit über Schulden und Wachstum als völlig fehlerhaft.

Foto: Michele McDonald

Als der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble am 6. September 2011 vor den Bundestag tritt, um für den Sparkurs seiner Regierung in Europa zu werben, gibt er seinen Argumenten einen wissenschaftlichen Anstrich: "Man muss daran erinnern", ruft Schäuble den Abgeordneten entgegen, "dass die US-Ökonomen Reinhart und Rogoff vor kurzem in einer vielbeachteten Studie dargelegt haben, dass das Wirtschaftswachstum ab einem bestimmten Verschuldungsgrad gedämpft wird."

Nur selten hat in den vergangenen Jahren eine ökonomische Studie so viel Aufmerksamkeit erregt wie die 2010 erschienenen Berechnungen von Reinhart und Rogoff, die angeblich nachweisen, dass Länder mit einem öffentlichen Schuldenstand jenseits der 90-Prozent-Marke in die Armut abgleiten. Die Studie ging um die Welt: Neben Schäuble und EU-Währungskommissar Olli Rehn, der die beiden regelmäßig zitiert, beriefen sich die Republikaner im US-Wahlkampf 2012 auf Rogoff und Reinhart, um für einen schlanken Staat zu werben. Zu dieser Zeit begann ein Student in der kleinen Ostküstenstadt Amherst nachzurechnen:

Standard: Herr Herndon, warum haben Sie begonnen, sich mit Reinharts und Rogoffs These zu beschäftigen?

Herndon: In einem Kurs über angewandte Ökonometrie bekamen wir im Herbstsemester 2012 die Aufgabe, die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie nachzurechnen. Es war als Übung gedacht, um zu sehen, wie Ökonomen arbeiten. Ich wählte Reinharts und Rogoffs Studie, weil mir das Thema aktuell erschien. Ich arbeitete fast ein ganzes Semester an dem Papier, aber es gelang mir einfach nicht, dessen wichtigstes Ergebnis nachzuvollziehen, wonach die Wirtschaft in Ländern mit einem Schuldenstand von über 90 Prozent schrumpft. Ich nutzte für meine Rechnungen die Daten auf der Homepage der beiden Ökonomen und die dort beschriebene Methode, aber ich kam auf andere Ergebnisse. Ich war zunächst so wie meine Professoren überzeugt, dass der Fehler bei mir lag. Gegen Ende des Semesters konnte ich sie davon überzeugen, dass ich alles richtig gerechnet hatte. Ich begann zur selben Zeit, im Februar 2013, Reinhart und Rogoff E-Mails zu schicken, und teilte ihnen meine Schwierigkeiten mit, bat sie um Rat und um das Excel-Dokument mit all ihren Berechnungen.

Standard: Bekamen Sie eine Antwort von den beiden?

Herndon: Zunächst nicht. Nach mehreren Versuchen antwortete mir Reinhart schließlich im April: Sie schrieb mir höflich, dass sie keine Zeit hatte und auch keine haben werde, um sich mit meinen Fragen auseinanderzusetzen. Sie könne sich nicht jedem fremden Studenten widmen. Aber sie schickte mir alle Daten zu. Ich machte die Excel-Tabelle auf. Ein Klick, und mir fielen sofort die Fehler auf.

Standard: Reinhart und Rogoff hatten bei ihren Berechnungen auf die Zahlen aus fünf Ländern, darunter Österreich und Kanada, vergessen.

Herndon: Die beiden hatten in ihrem Papier angegeben, die Entwicklung in 20 Länder zwischen 1946 und 2009 untersucht zu haben. Tatsächlich waren in der Rechnung nur 15 Staaten berücksichtigt. Der Fehler war so offensichtlich, dass ich mir zunächst dachte, das sei zu trivial, um wahr zu sein. Ich fragte meine Freundin, eine Soziologin, ob sie einen Blick auf die Rechnung werfen könne und ob ich was übersehen hätte. Sie sagte: "Nein, Thomas, die haben den Fehler gemacht. Du solltest deinen Professoren eine E-Mail schreiben."

Standard: Allerdings war das nicht das einzige Problem.

Herndon: Am schwerwiegendsten war, dass einige Daten ohne Angabe von Gründen ausgelassen wurden. Für Neuseeland wurde beispielsweise nur das Jahr 1951 in der Rechnung berücksichtigt, als das Land einen hohen Schuldenstand aufwies und die Wirtschaftskraft (BIP) schrumpfte. Dabei lag Neuseelands Verschuldung zwischen 1947 und 1949 ebenfalls über 90 Prozent, damals wuchs die Wirtschaft sogar, doch diese Daten wurden ignoriert. Dann war die Gewichtung problematisch: Reinhart und Rogoff gaben an, dass sie für die untersuchten Länder 96 Jahre ausfindig gemacht hatten, in denen die Schuldenquote über 90 Prozent lag. Sie erweckten den Eindruck, als hätten sie das durchschnittliche Wachstum dieser 96 Jahre errechnet. Tatsächlich gewichteten sie alle Länder gleich, was zu Verzerrungen führte. Beispiel: Großbritannien verbrachte 20 Jahre mit einem Schuldenstand von über 90 Prozent, das BIP des Landes wuchs in dieser Zeit um durchschnittlich 2,5 Prozent. Für Neuseeland werteten sie ein Jahr mit einem Schuldenstand über 90 aus, als die Wirtschaft um sieben Prozent schrumpfte - dieses eine Jahr wurde gleich gewichtet wie die 20 Jahre für Großbritannien. Neuseeland ist noch aus einem anderen Grund spannend: Dass die Wirtschaft des Landes 1951 so stark schrumpfte, lag nicht am hohen Schuldenstand, sondern an einem Streik der Dockarbeiter.

Standard: Wurden diese vielen Fehler absichtlich gemacht?

Herndon: Ich möchte darüber nicht spekulieren. Ich und meine Professoren nehmen an, dass Rogoff und Reinhart sich einfach geirrt haben.

Standard: Reinhart und Rogoff haben sich lange nicht zu Ihrer Kritik geäußert. Erst Wochen später sagte Rogoff, dass die Kritik ideologisch begründet sei. Die Grundaussage seiner Arbeit - hohe Schulden, weniger Wachstum - verteidigte er trotz der Fehler als korrekt.

Herndon: Rogoff meinte sogar, unsere Studie bestätige seine Untersuchung. Das stimmt allerdings nicht. Der minimale negative Zusammenhang zwischen Wachstum und Schulden, den wir noch fanden, wenn man die Daten korrekt auswertet, ist statistisch nicht signifikant. Zudem sind zwischen 2000 und 2009 Länder mit einem Schuldenstand über 90 Prozent sogar stärker gewachsen als Länder mit einem Schuldenstand zwischen 60 und 90 Prozent. Das thematisierte Rogoff nicht. Die Kritik mit dem ideologischen Hintergrund ging überhaupt ins Leere: Ich gebe gern zu, dass ich die Sparprogramme in Krisenzeiten für falsch halte. Aber das hat nur dazu geführt, dass ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt habe. Wir haben statistische Analyse gemacht und keine politischen Thesen aufgestellt.

Standard: Reinhart und Rogoffs These wurde von Politikern, Bankern oft zitiert. Würden Sie sagen: Das Erstaunliche ist eigentlich, dass es so lange gedauert hat, um die Fehler zu finden?

Herndon: Es gibt leider keinen Anreiz in den Wirtschaftswissenschaften, die Publikation von jemand anderem nachzurechnen. Wenn man es ordentlich machen will, ist es eine aufwändige Arbeit, und wenn die Zahlen der Kollegen stimmen, kann man seine Berechnungen nicht einmal veröffentlichen. Der Ökonomie würde es guttun, wenn mehr Publikationen überprüft werden, vor allem, wenn es so wie in diesem Fall um Arbeiten geht, die politische Strategien beeinflussen.

Standard: Versagt haben allerdings auch die Journalisten: Die "Financial Times", das "Wall Street Journal", der Standard - alle berichteten über den Zusammenhang von Schulden und Wachstum, ohne die Daten zu prüfen.

Herndon: Es wäre Aufgabe der Journalisten gewesen, die Fakten gegenzuprüfen. Ich kann mir vorstellen, dass das für Journalisten schwieriger ist, weil vielen das Können fehlt. Aber es gibt natürlich kluge Leute in Medienunternehmen, die gut mit Statistiken umgehen können. Ich denke, Teil des Problems ist, dass viele Zeitungen in der Krise stecken und gegen Onlinekonkurrenz kämpfen. Die Medien bauen Mitarbeiter ab, vermutlich fehlt da die Zeit für aufwändige Recherchen.

Standard: Wie hat sich die Affäre für Sie persönlich ausgewirkt: Bieten Ihnen die Top-Unis einen Job nach dem anderen an, sind Sie reich geworden?

Herndon: Reich sicher nicht. Ich bin nach wie vor Student und schreibe an meiner Dissertation. Für meine Karriere war die Episode sicher nicht nachteilig. Die Zeit war aufregend, aber nicht immer einfach: Die Debatte wurde zum Teil polarisiert geführt, es gab persönliche Angriffe gegen mich. Aber die meisten Ökonomen, die meine Arbeit gesehen haben, lobten sie als solide, was mich stolz macht. Unser wichtigster Beitrag war ja, dass die Kritiken an Reinhart und Rogoff, die es schon vorher gab, durch die Offenlegung der Fehler ernster genommen wurden.

Standard: Sie schreiben Ihre Dissertation: Prüfen Sie wieder die Ergebnisse irgendwelcher Ökonomen nach?

Herndon: (lacht) Nein, nein. Ich mache eine eigenständige Forschungsarbeit. Es geht um die Auswirkungen von Privatkonkursen auf das Wachstum in den USA. Zu befürchten hat also diesmal keiner etwas. (András Szigetvari, DER STANDARD, Portfolio, Dezember 2013)