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Man kann nicht sagen, die britische Kriegsführung im Ersten Weltkrieg wäre dümmer gewesen als die anderer Großmächte. Der erste Oberkommandierende war über jeden Zweifel erhaben. Sir John French war kleinwüchsig. Theorie- und Taktikmängel glich er durch leutseliges Betragen aus.

Als die Deutschen 1914 durch Belgien und Nordfrankreich stürmten, dachten er und seine Führungsoffiziere zunächst an guten Sport. Das britische Expeditionsheer bestand aus Berufssoldaten und Freiwilligen. Angekommen auf dem Festland, geriet es sofort unter schweres Feuer. Die Truppen des Empire erlitten hohe Verluste. Der Enthusiasmus von Sir John French blieb ungedämpft. "Vielleicht liegt der Reiz des Krieges in seiner herrlichen Ungewissheit!", schrieb der Haudegen in sein Tagebuch.

Der in Kalifornien lebende Journalist und Historiker Adam Hochschild widmet ein ganzes Buch Figuren wie French. Die Schwester des hochdekorierten Offiziers war Charlotte Despard. Ausgerechnet diese Frau gelangte als Pazifistin und Frauenrechtlerin in England zu einigem Ansehen. Hochschild aber rollt das Kriegsgeschehen von zwei Seiten her auf. Das Empire ist in den Jahren vor 1914 die unbestrittene Weltmacht Nummer eins. Seine Eliten schwelgen im Hochgefühl der eigenen Tüchtigkeit.

Als Queen Victoria 1897 ihr diamantenes Kronjubiläum feiert, jubeln Angelsachsen rund um den ganzen Erdball. Am britischen Wesen soll die ganze Welt genesen. Oxford- und Eton-Schüler versorgen Kolonialbürger in aller Welt mit britischer Lebensart. Jede Unbotmäßigkeit wird mit unerbittlicher Strenge geahndet. Lokale Konflikte wie der Burenkrieg (1899-1902) enthüllen die bestürzende Gewaltbereitschaft englischer Zentralstellen.

Der Widerstand der Buren am Kap der Guten Hoffnung wird mit einer Politik der verbrannten Erde gebrochen. Wieder sind es Friedensaktivistinnen wie Emily Hobhouse, die die Auswüchse imperialistischer Politik brandmarken. Hobhouse besucht die Konzentrationslager, in denen Buren in Massen sterben. Hobhouse ist fassungslos. Sie schreibt flammende Briefe nach Hause. Sie sieht die britische Verwaltung bei der Arbeit und gewahrt "krasse männliche Ignoranz, Dummheit, Hilflosigkeit und Konfusion."

Blinkender Harnisch

Das Massensterben der europäischen Jugend auf den schlammigen Schlachtfeldern in Belgien und Flandern hat viele Ursachen. Die nicht unwichtigste ist die Borniertheit der Eliten. Befehlshaber wie French bildeten die Regel, nicht die Ausnahme. Ihr Handwerk hatten sie im 19.Jahrhundert erlernt. Ihr Denken konzentrierte sich auf Pferde. Mit Ende des Jahres 1914 gerät der Bewegungskrieg ins Stocken. Hunderttausende Soldaten sind gefallen. Die Stunde des Maschinengewehrs hat geschlagen. Die französischen Infanteristen trugen knallrote Hosen. Wer in der Dämmerung auf sie anlegte, kam gar nicht umhin, sie zu treffen. Nicht viel besser erging es den Eliten hoch zu Ross. Die Kürassiere steckten in Brustharnischen, die leider keine Kugeln abwehrten. Dafür brach sich das Sonnenlicht vielfach an der polierten Oberfläche. Die Gefechte glichen Massakern.

Es fällt schwer, in den Schlachten des Ersten Weltkriegs etwas anderes als Massenmord zu erblicken. Der zermürbende Stellungskrieg sollte nur eine Phase des Übergangs bilden. Befehlshaber wie French und nach ihm Douglas Haig schwärmten nach wie vor von der Kavallerieattacke. Während vorne in der Kampflinie der Tod massenhaft Ernte hielt, wartete hinten die Reiterei. Die bestausgebildeteten Offiziere der Welt plädierten allen Ernstes für Bajonettangriff und scharfen Galopp.

Die Infanterie rückte bis 1917 dicht an dicht vor, während die automatischen Waffen tausende Kugeln in der Minute verspritzten. Es grenzt an ein Rätsel, mit welcher Unbewegtheit skeptische junge Männer zu Hunderttausenden in den Untergang stapften. Wer überlebte, saß im Lehm der Gräben fest und begegnete dort Ratten, die fetter als Katzen waren.

Das größte Inferno bildete aus britischer Perspektive die Schlacht an der Somme (1916). 224.000 Granaten verschoss die eigene Artillerie allein in der letzten Stunde, bevor der Angriff auf die deutschen Stellungen am 1. Juli 1916 losging. Art und Anlage der Kampfhandlungen begünstigten die Verteidiger. Von 120.000 beteiligten Briten fielen am ersten Tag 57.000 oder wurden verwundet. 19.000 Soldaten starben bereits in der ersten Stunde des Sturmangriffs. Erzielt wurden Geländegewinne von wenigen Kilometern.

Sir Douglas Haig, der neue Oberkommandierende an der Westfront, war es zufrieden. Der deutsche Feind habe starke Abnützungserscheinungen hinnehmen müssen. Haig wusste das nicht genau, aber es erschien ihm logisch. Demgemäß wurde er ungehalten, wenn in den nächsten Wochen die eigenen Verlustziffern absanken. Wer nützte jetzt die Deutschen ab? Kritik aus der Heimat begegnete der maulfaule Held unduldsam. "Siege" wie die seine konnte sich das Empire aber immer weniger leisten.

Wer die Wochenschaubilder jubelnder Massen 1914 im Kopf hat, vergisst auf die Zivilgesellschaft. Die Independent Labour Party setzte große Stücke auf den Friedenswillen des Proletariats. Der französische Soizialistenführer Jean Jaurès bezahlte sein pazifistisches Engagement mit dem Leben. Während Autoren wie Rudyard Kipling geifernde Gedichte gegen den Feind schrieben, wanderten viele Intellektuelle - wie der Philosoph Bertrand Russell - für ihre friedfertige Gesinnung ohne mit der Wimper zu zucken hinter Gitter. Verbände wie die "No-Conscription-Fellowship" setzten sich gegen den Druck der Regierungsstellen zur Wehr. Die "Zivilgesellschaft" entstand im furchtbarsten Krieg, den die Welt je gesehen hatte. Sie beschränkte sich auf eine qualifizierte Minderheit rechtlich denkender Menschen.

Flaches Glas für Gummi

Hochschilds Buch kann als wertvolle Ergänzung zu einschlägigen Kompendien empfohlen werden. Es sind die Einzelheiten, die aufhorchen lassen. Als die britische Seite das Fehlen leistungsfähiger Optik im Stellungskrieg beklagte, schloss sie sich ausgerechnet mit dem Kriegsgegner kurz. Die Gläser von Carl Zeiss in Jena wurden ihnen bereitwillig (und in hohen Stückzahlen) verkauft. Die Deutschen, die wegen der Kontinentalblockade schwere Entbehrungen litten, ließen sich im Gegenzug Unmengen von Gummi liefern. Bald schon konnten britische Richtschützen durch deutsche Linsen auf deutsche Köpfe und Körper zielen.

Einige der besten Köpfe Großbritanniens machten sich - wie John Buchan - als Propagandaschreiber einen Namen. Es scheint, als hätte das vierjährige Morden einige Wirtschaftszweige regelrecht belebt. 1918 waren mehr als 720.000 Briten gefallen, nicht gerechnet die 200.000 Toten aus anderen Ländern des Empire. Am Ende konnten weder Sozialistenführer noch Kolonialpolitiker den Zerfall des Weltreiches verhindern. Die Generation der Überlebenden war in Zynismus abgeglitten. Und Pferde spielten nicht die geringste Rolle mehr. (Ronald Pohl, Album, DER STANDARD, 30.11./1.12.2013)