"Um die Akzeptanz der Ersatzmittel zu heben, ging von Mai bis August 1918 im Wiener Prater eine Ausstellung in Szene. Die Veranstalter thematisierten Ernährung und Haushalt, ­Papiergewebe sowie Lederersatz."

Foto: Wien Bibliothek

"Weiterhin behandelte der genannte Hofrat auch die Würste; die zunehmende Fleisch- und Speckteuerung hat die Verwendung steigender Mengen von Füllstoffen zur Folge gehabt, mancherorts enthält die Wurst solche ­Mengen von Mehl, daß die ­Wursterzeugung eigentlich dem Bäcker zustehen sollte."

Drastische Schlüsse wie diesen zog im März 1917 der renommierte Lebensmittelchemiker Franz Wilhelm Dafert in einem Vortrag im Niederösterreichischen Gewerbeverein. Man darf annehmen, dass im Anschluss daran eine lebhafte Diskussion mit weiteren Erfahrungsberichten einsetzte. Denn im dritten Kriegsjahr hatten Ersatzstoffe für vielerlei mangelnde Güter einen festen Platz im Alltag gefunden.

Wer hätte das vor Kriegsausbruch gedacht? 1914 herrschte ein lebhafter internationaler Handel: Die USA etwa lieferten Metalle, Textilrohstoffe, Fette und Öle.
Die europäischen Mächte bezogen aus ihren Kolonien Kautschuk, tropische Öle, Harze und Wachse. Nach den diversen Kriegserklärungen erwartete man einen kurzen Waffengang. Aber nach wenigen Wochen versiegten viele Handelsströme. Nun erst öffnete sich ein Blick auf Materialien, deren Verfügbarkeit für eine längere Kriegsführung der "Mittelmächte" entscheidend werden konnte.

Bald schon wurden Nichteisenmetalle knapp. Kupfer, Messing und Blei dienten dem schier unermesslichen Bedarf an Munition. Nickel war für kriegswichtige Stahlsorten unverzichtbar, Zinn für Konservendosen. Um den Ankauf und die Umarbeitung metallhaltiger Werkstoffe zu gewähr­leisten, nahm im November 1914 eine "Metallzentrale Aktiengesellschaft" ihre Arbeit auf. Sie war eine der ersten Organisationen im Übergang zur Kriegswirtschaft.

Eingeschmolzene Glocken

Nun setzten hektische Aktivitäten zur Deckung des Metallbedarfs ein. Erhebliche Mengen reinen Kupfers waren in den Stromnetzen gebunden. Aufwändige technische Maßnahmen in den Wiener städtischen Elektrizitätswerken ermöglichten die Freisetzung einiger Hundert Tonnen dieses Metalls. Wo möglich, wurden Kupferleitungen durch Aluminiumdrähte ersetzt.

Die Bevölkerung wurde aufgerufen, Gerätschaften aus Metall zu spenden. Daraufhin langten zehntausende Gegenstände auf den Sammelplätzen ein. Eine Kommission von Sachverständigen unter militärischer Leitung sichtete die Objekte, eine größere Zahl wurde aufgrund ihres kunsthis­torischen Wertes verschont und publikumswirksam im Militärkasino am Wiener Schwarzenbergplatz zur Schau gestellt. Wesentlich ergiebiger zeigte sich die Einschmelzung von Kirchenglocken für militärische Zwecke. Sie erregte aber bei vielen Menschen heftige Emotionen.

So entschwanden die Buntmetalle allmählich aus der alltäglichen Wahrnehmung. Haushaltsgeräte aus Kupfer und Nickel wichen emailliertem Eisengeschirr. Messingarmaturen in Straßen- und Eisenbahnen wurden zunehmend aus Stahl und Eisen gefertigt. Uhrmacher sahen sich gezwungen, ihre Mechanismen statt aus Messing aus reinem, aber ­weichem Zink zu formen. Das ­verminderte die Qualität und ­verschaffte der "Kriegsware" an Uhren einen schlechten Ruf.

Entblößt im Regen

Der enorme Heeresbedarf wirkte sich alsbald auf die Versorgung mit Kleidung aus. Baumwolle, ein reines Importgut, wurde unter ­anderem zur Herstellung von Schießbaumwolle benötigt, Schafwolle zu Monturen für die Armee verarbeitet. Leinen stand nur in unzureichenden Mengen zur Verfügung: Denn, so stellten Kommentatoren anklagend fest, die Produktion von Flachs hatte in den Jahrzehnten zuvor ständig an Boden verloren. Nun erfolgten Experimente mit vielerlei "Kunstwollen" und "Kunstbaumwollen", auch die Brennnessel fand als heimische Pflanzenfaser vermehrte Beachtung.

Von oben propagiert wurden Kleidungsstücke aus Papiergarn. Als Grundstoff diente das reichlich vorhandene Holz. Zwar ­waren Wäschestücke aus Papier prinzipiell seit Friedenszeiten bekannt. Aber mangelnder Tragekomfort, umständliche Pflege sowie Ängste, im Fall eines Platzregens entblößt dazustehen, veranlassten viele zur entschiedenen Ablehnung dieses Ersatzstoffes.

Ein bemerkenswerter Engpass entstand in der Lederherstellung. Viele Gerbereien benützten effektive Substanzen wie das stark tanninhaltige Holz des argentinischen Quebrachobaumes. Mit Kriegsbeginn blieben diese Importe aus, daraufhin griffen die Fabrikanten wieder auf überkommene Rohstoffe wie Eichen- und Kastanienholz zurück. 1915 wurden Sohlen- und Oberleder für Schuhe sowie andere Ledersorten requiriert. In der Folge musste sich die Zivilbevölkerung zunehmend mit Schuhsohlen aus Lederabfällen, Holz oder Filz begnügen. In der Lederpflege enthielten viele Schuh­cremen das wirksame Wachs der brasilianischen Karnaubapalme. Nach dessen Entfall behalfen sich die Hersteller mit dem weniger geeigneten "Rohmontanwachs" aus einheimischer Braunkohle.

Straßenschäden durch Kautschukmangel

Gummiwaren aus Kautschuk standen vielfältig in Gebrauch. Mit Kriegsbeginn kam aber die Einfuhr des kolonialen Import­gutes zum Erliegen. Außerdem benötigte die Heeresverwaltung Gummi für Autoreifen, Ballons, Tücher in Spitälern und chirurgische Artikel. Ein annehmbarer Ersatz dafür konnte nicht gefunden werden, lediglich ein Regenerat von aufgearbeitetem Altgummi wurde zustande gebracht. Damit verschwanden Gummiartikel aus den Geschäften, und viele Lastkraftwagen mussten im Zivilverkehr ohne elastische Bereifung verkehren. Das schädigte die Straßen und führte zu nachhaltigen Erschütterungen an Gebäuden.

Fette und Öle dienten nicht nur der Ernährung, sondern auch technischen Zwecken. Für ihre Beschaffung sorgte ab 1915 eine "Öl- und Fettzentrale Aktiengesellschaft". Besonders wichtig war das vielseitig verwendbare Glyzerin. Es wurde durch Nitrierung mit Salpeter– und Schwefelsäure zu Nitroglyzerin verarbeitet, das als Sprengstoff diente. Folgerichtig wurde Glyzerin schon bald für den Heeresbedarf eingezogen. Sein Mangel machte sich in vielen Branchen bemerkbar, etwa bei der Herstellung von Seifen.

Die Seifenerzeuger verwendeten neben dem Glyzerin auch große Mengen an Palmkernöl und Kokosöl aus den Kolonien. Im Gefolge der Handelsblo­ckaden verschwanden diese fetthaltigen Stoffe, und die "Kriegsseifen" erlangten einen notorischen Status: Sie enthielten viel Wasser sowie Zusätze wie Sand oder Ton. Das Aussehen hochwertiger Seifen wurde mit Teerfarbstoffen vorgetäuscht.

Mit dem Fettmangel büßten außerdem Kerzen an Qualität ein. Sie bestanden überwiegend aus Stearin oder aus Paraffin auf Erdölbasis. Nach einem enormen Anstieg der Stearinpreise verlegten sich die Hersteller auf das Paraffin. Vom Herbst 1914 bis zum Frühjahr 1915 stand aber die staatliche Mineralölfabrik im galizischen Drohobytsch unter der Kontrolle russischer Truppen, was die Zufuhr des Rohstoffes ­wesentlich einschränkte. Darüber hinaus fehlten brauchbare Dochte aus Baumwollgarn.

Naturharze und das Harzderivat Kolophonium stammten bis zum Krieg meistens aus Frankreich und den Vereinigten Staaten. Sie dienten zur Erzeugung von Lacken und Firnissen, Farben und Seifen, zur Papierleimung und zum Auspichen von Bierfässern, aber auch für die Munitionsherstellung. Nach ihrer Verknappung wurden die Schwarzkieferbestände südlich von Wien intensiv bewirtschaftet. Ferner entwickelten Chemiker als Nebenprodukt der Verarbeitung von Steinkohlenteer das künstliche Kumaronharz.

Knochen und Kadaver

Die Suche nach verwertbaren Öl- und Fettquellen gestaltete sich ausgesprochen vielfältig. Große, aber unerfüllbare Hoffnungen galten der Fettgewinnung aus den Abfällen von Betrieben und aus Abwässern. Ferner wurde eine Unzahl von Pflanzenarten auf ihren Ölgehalt untersucht. Knochen und Tierkadaver lieferten weitere verwertbare Stoffe. Dennoch verschwanden Fette in
den letzten Kriegsmonaten fast gänzlich vom Speisezettel. Zunehmender Hunger ging nun ­einher mit Ekelgefühlen gegenüber vielen ­Ersatzmitteln. An
die Stelle von Speiseöl für Salate trat beispielsweise ein Pflanzenschleim namens "Salatol", den Franz Wilhelm Dafert als Brechmittel charakterisierte.

Um die Akzeptanz der Ersatzmittel zu heben, ging von Mai bis August 1918 im ­Wiener Prater eine Ausstellung in Szene. Die Veranstalter thematisierten Ernährung und Haushalt, Papiergewebe sowie Lederersatz. Das abschließende Urteil der ­Bevölkerung fiel allerdings eindeutig aus: Nach dem Ende des Krieges verschwanden die meisten Ersatzstoffe rasch aus dem Alltag. (Hubert Weitensfelder, DER STANDARD, Album, 30.11.2013)