derStandard.at: Die ganze Welt blickt im Vorfeld des 100-Jahr-Jubiläums nach Sarajevo. Wie blickt Sarajevo auf 1914?
Muharem Bazdulj: Der Blick ist nicht einheitlich. Lange Zeit, vor den Olympischen Spielen 1984 und vor allem vor dem Krieg Anfang der 1990er, war das Attentat in Sarajevo die einzige Assoziation, die man in Bezug auf die Stadt hatte. Innerhalb Bosniens, eigentlich innerhalb des sozialistischen Jugoslawien war jahrzehntelang die Erinnerung an das Attentat eine positive. In der Geschichtsschreibung, im Schulcurriculum und in der medialen Perzeption wurden "Mlada Bosna" und Gavrilo Princip als Avantgarde einer Idee gesehen, die im sozialistischen jugoslawischen Staat ihre Verwirklichung fand.
derStandard.at: Jetzt, nachdem die jugoslawische Idee einen blutigen Tod starb, hat sich die Interpretation geändert?
Bazdulj: Bereits Ende der 1980er-Jahre, am Anfang der jugoslawischen Krise und besonders während der Belagerung Sarajevos (1992-1995, Anm. d. Red.) hat sich die Perzeption der Ereignisse von 1914 sehr geändert. Das gemeinsame Bestreben der bosniakischen und serbischen Nationalisten hat viel dazu beigetragen. Obwohl die Mitglieder von Mlada Bosna weder religiös noch nationalistisch waren, wurden sie plötzlich von den serbischen Nationalisten vereinnahmt und beinahe als Vorläufer der großserbischen Idee angesehen. Die bosniakischen Nationalisten haben diese Uminterpretation dankbar angenommen, um sich davon abzugrenzen.
In Sarajevo ist diese Neuinterpretation sehr sichtbar: Zunächst wurde das Gavrilo-Princip-Denkmal entfernt, die Straßen, die nach seinen Helfern und Mitaktivisten benannt waren, wurden umbenannt, obwohl es unter ihnen auch Muslime und Kroaten gab. Die Brück, neben der das Attentat verübt wurde, ebenfalls. Das Museum gegenüber der Brücke, das ursprünglich Muzej Mlade Bosne hieß, heißt jetzt Muzej Sarajevo 1878-1918 und ist der Periode der österreichisch-ungarischen Herrschaft in Bosnien und Herzegowina gewidmet.
derStandard.at: Hat sich der Blick auf die Rolle Österreich-Ungarns in Bosnien auch geändert?
Bazdulj: Ja, und er ähnelt der alten Interpretation der österreichisch-ungarischen Periode. Als wäre das eine reine Aufklärungsmission gewesen und keine Okkupation. Man könnte es fast anlog mit der aktuellen amerikanischen Mission im Irak setzen, die ja angeblich nur der Demokratisierung dient. So ist das nicht und war es in Bosnien in dieser Zeit auch nicht ausschließlich. Viele in Bosnien haben einen irritierenden "autokolonialen" Blick auf diesen Teil der eigenen Geschichte.
derStandard.at: Sie haben auch einen guten Einblick in die öffentliche Meinung in Serbien und Belgrad. Wie gedenkt man dort?
Bazdulj: In Serbien beobachte ich eine - nur teilweise irrationale - Angst vor einem Geschichtsrevisionismus. Bereits nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gab es Konzepte, Deutschland vonr der Kriegsschuld zu befreien. Nach Hitler und nach den 1960ern gab es einen relativ breiten, globalen Konsens darüber, wo die Ursachen zu suchen sind. Nun glaubt man in Belgrad, das der Löwenanteil der Schuld wieder Serbien zugeschrieben wird. Es gibt die Angst, dass das negative Image, das Serbien nach den letzten jugoslawischen Kriegen hat, quasi im Nachhinein auch auf den Anfang des 20. Jahrhunderts umgelegt wird. Gleichzeitig herrscht das Gefühl der Machtlosigkeit, diesem Revisionismus nichts entgegensetzen zu können.
Vor 50 Jahren war das Schlüsselbuch zum Jubiläum, das Werk des jugoslawischen Historikers Vladimir Dedijer, "Zeitbombe, Sarajevo 1914", das auf Englisch veröffentlicht wurde, erschienen, es hatte damals ein Paradigma aufgestellt. Das wichtigste Buch zum aktuellen Jubiläum, Christopher Clarks "Schlafwandler", wurde hingegen noch nicht einmal ins Serbische übersetzt. Diese historische Dissonanz hat große symbolische Bedeutung.
"Schlafwandler" hat hohe Wellen geschlagen und war schon auf der Titelseite von "Politika" (traditionsreiche serbische Tageszeitung, Anm. der Red.) und wird als "antiserbisch" interpretiert. Clark ist aber nicht ganz unschuldig daran, weil er im Vorwort betont, dass man nach den Kriegen von 1992 und 1999 auf Serbien nicht mehr mit der gleichen Sympathie schauen kann wie auf das kleine Balkanland, als das es 1914 einer ungerechten Aggression der Großmächte ausgesetzt war. (Olivera Stajić, 29.11.2013)