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Timothy Garton Ash: große Koalition in Berlin und Brüssel.

Foto: EPA

Die Bundestagswahl ist geschlagen, Deutschland und Frankreich rufen eine große Initiative ins Leben, um das europäische Projekt zu retten. Ein Jahrhundert nach 1914 steht das in angenehmem Kontrast zu der schwachen und verwirrten Führung, unter der Europa einst in den Ersten Weltkrieg gestolpert ist. Vor den EU-Wahlen im kommenden Mai werden entschlossenes Handeln und inspirierende Rhetorik des deutsch-französischen Paares all die EU-Gegner zurückdrängen, die in so vielen Ländern Europas auf dem Vormarsch sind.

Ach, träumen Sie weiter, Herr und Frau Pro-Europäer, träumen Sie doch weiter!

In den deutschen Koalitionsverhandlungen wurden die europäischen Angelegenheiten in einer Untergruppe des Finanzbereichs behandelt. Die Untergruppe nannte sich "Bankenregulierung, Europa, Euro". Für die Union und die Sozialdemokraten waren alle heißen Themen innenpolitisch. Mindestlöhne, Energiepolitik, Doppelstaatsbürgerschaften oder Autobahnmaut - alles zählte mehr als die Zukunft des Kontinents.

Deutsche Politiker wissen, was sie ihren Wählern verkaufen müssen, wenn sie in Zukunft Wahlen gewinnen wollen. Die meisten Deutschen spüren nichts von der Eurokrise, wenn sie ihre Weihnachtseinkäufe machen. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt acht Prozent (in Spanien sind es 56 Prozent). Es ist schwierig zu vermitteln, wie weit entfernt und unwichtig die Krise Europas für den einfachen Mann in der Berliner U-Bahn ist. Im Gegensatz zu seinem Kollegen in Madrid wird er nicht aus dem Untergrund auftauchen und Berge stinkenden Mülls auf den Straßen vorfinden.

Europas ohnehin schon zögerliche Führungsmacht wird überdies Kompromisse mit Frankreich schließen müssen, das in diversen Schlüsselfragen abweichender Ansicht ist. Zudem hat Frankreich einen schwachen Präsidenten. Wie soll François Hollande, der bei der Reform seines eigenen Landes versagt, denn andere Länder reformieren? Das alternde und zunehmend ungleiche deutsch-französische Paar, das im Jänner eine eher trübsinnige goldene Hochzeit gefeiert und bei dem die deutsche Frau nun endgültig die Hosen anhat, wird auch auf Vorschläge von Partnern wie Polen und europäischen Institutionen zurückgreifen müssen.

Und aus diesem dysfunktionalen Orchester soll eine Fanfare erschallen, die alle EU-Skeptiker zurückdrängt und die Europäer an die Urnen bringt? Hahaha.

Als Ergebnis dieser Stimmung wird diese Europawahl die interessanteste seit 1979 sein, denn beinahe in ganz Europa gibt es ein erstaunliches Aufgebot von nationalen Protestparteien. "Populisten", so lautet der faul gewählte Überbegriff für sie, der ihre Unterschiedlichkeit bei weitem nicht einfängt. Bei aller gebotenen Geringschätzung für die britische Independence Party und die Allianz für Deutschland, es ist falsch, sie mit den griechischen Neofaschisten der Goldenen Morgenröte, Ungarns Jobbik oder dem Front National in Frankreich über einen Kamm zu scheren. Katalanische Nationalisten und Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung in Italien könnten nicht weiter entfernt sein von der extremen Rechten. Näher zur xenophoben Politik des Front National stehen indes Gruppierungen wie der Vlaams Belang in Belgien, Die Finnen (bis vor kurzem: Die Wahren Finnen), die Dänische Volkspartei und die Freiheitlichen in Österreich.

Unlängst haben Marine Le Pen und Geert Wilders versucht, diese Parteien zusammenzuschließen. "Heute beginnt die Befreiung von der europäischen Elite, dem Monster in Brüssel", plärrte Wilders. "Patriotische Parteien" , fügte Le Pen hinzu, "wollen den Bürgern die Freiheit zurückgeben", statt gezwungen zu werden, "Budgets einem Direktorium vorzulegen". In Wien sind wenig später vier andere - die Freiheitlichen, die Schwedendemokraten, die Lega Nord und der Vlaams Belang - in den Rechtswalzer mit Marine eingeschwenkt.

Toiletten-Regulierungen

Ich wäre verwundert, würden diese Parteien nicht abräumen bei den Europawahlen. Ich sehe derzeit nichts in Berlin, Paris oder Brüssel (vergesst London), das deren wahrscheinlichen Erdrutschsieg umkehren könnte. Hinter diesen Parteien mit typischerweise zehn bis 25 Prozent Zustimmung in Meinungsumfragen steht eine viel größere Unzufriedenheit aufgrund von Arbeitslosigkeit, Sparpolitik und einer Brüsseler Bürokratie, die fortwährend Regulierungen für Staubsauger und Toilettenspülungen ausspuckt.

Weil aber dasjenige, was die meisten dieser Parteien gemeinsam haben, ihr Nationalismus ist, könnten sie Schwierigkeiten haben, über mehr übereinzukommen als ihre geteilte Ablehnung gegenüber der EU. Sollten sie im kommenden Europäischen Parlament stark repräsentiert sein, dann wird der unmittelbare Effekt daraus sein, dass sich die etablierten sozialistischen, konservativen und liberalen Gruppierungen enger zusammenschließen. Das ergäbe eine explizite große Koalition in Berlin und eine implizite große Koalition in Brüssel.

Das Problem mit großen Koalitionen, in denen moderate, zentristische Parteien die Verantwortung der Regierung tragen, ist aber, dass diese das Feld der Opposition völlig den Protestparteien überlassen. Andererseits: Der Erfolg dieser Antiparteien könnte zumindest eine junge Generation von Europäern mobilisieren, um Errungenschaften zu verteidigen, die sie als selbstverständlich empfindet. Das wird nicht wie seinerzeit 1914 sein. Aber 100 Jahre später wird Europa wieder interessante Zeiten erleben. (Timothy Garton Ash, DER STANDARD, 30.11.2013)

Übersetzung: C. Prantner