dieStandard.at: Haben die Gender Studies das Potential gesellschaftliche Veränderungen auszulösen?
Nikita Dhawan: Ja. Das Ziel der Frauenforschung war die Emanzipation von Frauen. Da wurde argumentiert, Frauen werden ökonomisch, politisch, sozial und kulturell benachteiligt. Es gab teilweise ein Verständnis von Frauen als Opfer. Der Übergang zu Gender Studies ist positiv, weil der Fokus nicht mehr auf Frauen in einer biologischen Kategorie ist, sondern auf die soziale Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit. Gender kann nicht als Einzelkategorie analysiert werden, ohne andere Kategorien, wie Rasse, Ethnizität, Religion, Sexualität, Schicht gleichzeitig zu berücksichtigen.
dieStandard.at: Weil es nicht "die Frau" gibt?
Dhawan: Genau. Man spricht von einem Zusammenspiel von Gender und anderen Kategorien. Zum Beispiel wenn eine schwarze Frau auf der Straße eine Gewalterfahrung hat. Da ist es schwierig zu sagen, ob es eine rassistische oder sexistische Tat war. Rassismus und Sexismus überlappen sich.
dieStandard.at: Was tragen die Gender Studies dazu bei, um Geschlechtergerechtigkeit herzustellen?
Dhawan: Ein Beitrag war, zu zeigen, dass Geschlechtergerechtigkeit nicht nur die Gerechtigkeit zwischen Männer und Frauen ist. Der zweite Beitrag ist die transnationale Perspektive. Wir können nicht über die Lage der Frauen in Europa reden, ohne auch eine globale Perspektive einzunehmen, weil unser Leben miteinander verbunden ist. Was wir essen, was wir mit unseren Leben machen, wird von Kolonialismus beeinflusst. Jeder trinkt Kaffee, isst Bananen, Kartoffeln oder trägt Baumwolle. Wenn wir über Geschlechtergerechtigkeit reden ist es wichtig zu sehen, wie westlicher Feminismus dazu beigetragen hat Kolonialisierung zu legitimieren.
dieStandard.at: Wie hat der westliche Feminismus dazu beigetragen?
Dhawan: Die westliche Frau präsentiert sich als emanzipiert im Vergleich mit der migrantischen Frau. Wenn wir in Europa von Unterdrückung sprechen, kommt sofort das Stereotyp von der muslimischen Frau: "Sie ist Opfer ihrer Kultur, die emanzipiert und gerettet werden muss." Die postkoloniale Feministin Gayatri Spivak hat dazu einen sehr schönen Satz gesagt: "Der weiße Mann versucht die braune Frau vor dem braunen Mann zu retten." Ein aktuelles Beispiel: Die Kriege in Afghanistan oder im Irak wurden damit legitimiert die Frauen aus ihrer Unterdrückung zu retten.
dieStandard.at: Ein anders aktuelles Beispiel wäre die Diskussion über das Fahrverbot für Frauen in Saudi Arabien.
Dhawan: Im Kontext von Saudi Arabien sieht man wie spannend diese Machtstrukturen sind. Saudi Arabien ist einer der wichtigsten Handelspartner europäischer Ländern. Was in Afghanistan und im Irak passiert ist – wo die USA die Länder bombardiert hat im Namen von Freiheit Demokratie und Menschenrechte – das würde in Saudi Arabien nie passieren. Sie würden nie sagen „wir wollen die saudi-arabische Frau retten“, weil das Land zu wichtig ist für die USA und Europa. Der weibliche Körper ist fast zum ideologischen Kampfplatz geworden zwischen diesen unterschiedlichen patriarchalischen Strukturen.
dieStandard.at: Sehen die Frauen das in diesen Ländern überhaupt als Unterdrückung?
Dhawan: Die grundlegende Frage ist: Warum akzeptieren Menschen ihre eigene Unterdrückung? Warum gibt es keine Revolution oder Aufstände etwa in Ländern wie Indien, wo so eine Ungerechtigkeit herrscht. Es gibt mehr Millionäre in Bombay als in New York. Meine Antwort ist: Es gibt eine Normalisierung dieser ungleichen Machtverhältnisse. Deshalb spielt auch Bildung eine wichtige Rolle.
dieStandard.at: Weil man es schon als normal ansieht, dass man unterdrückt wird?
Dhawan: Ja. Und das wird unterschiedlich legitimiert. In Indien wird es zum Beispiel über die Religion erklärt: Weil man im letzten Leben schlechte Taten begangen hat, ist man nun arm. Das ist Karma. Oder es wird ökonomisch erklärt: Arme Menschen sind arm, weil sie faul sind oder nicht effizient. Das ist der amerikanische Traum, "wenn man gut genug ist, kann jeder Millionär werden". Das stimmt so nicht, da werden die Strukturen nicht ernst genommen. Ein armes Mädchen, das in einem kleinen Dorf in Indien zur Schule geht, kann mit einer Person wie mir, die in eine Elite-Schule gegangen ist, nicht konkurrieren. Das ironische ist, die Opfer werden dafür verantwortlich gemacht, dass sie arm sind – im Englischen sagt man dazu "blaming the victims“. Das ist wirklich unfair. (Stefanie Ruep, dieStandard.at, 01.12.2013)