Süß, süßer, noch süßer: In der Vorweihnachtszeit ist Zucker omnipräsent. Der industriell gewonnene Zusatzstoff schadet der Volksgesundheit. Künstliche Aromen auch.

Foto: DerStandard/Matthias Cremer

Heute, am 3. Dezember, um 18.30 Uhr ist Hans-Ulrich Grimm Gast bei der Veranstaltung "Was verträgt unser Bauch?" im Tech Gate Vienna (22., Donau-City-Straße 1). Anmeldung erforderlich unter der Telefonnummer 01/20501-11101. Der Eintritt ist frei.

Foto: Hans-Ulrich Grimm

Hans-Ulrich Grimm kritisiert die fehlende geistige Unabhängigkeit von Ernährungswissenschaftlern und kauft "echtes Essen" nur mehr am Markt.

STANDARD: Wir starten in die Vanillekipferlsaison. Sie warnen vor Aromen und Zucker, warum?

Grimm: Ich warne nicht, ich berichte. Vanillekipferl sind ein Beispiel dafür, was in der Nahrungsmittelindustrie passiert. Vanille an sich ist ein gesundheitlich wertvoller, aber teurer Inhaltsstoff. Die Industrie verwendet lieber das Aroma Vanillin, das lange aus dem Abwasser von Papierfabriken gewonnen wurde. Aktuell im Fokus ist das Vanillearoma Piperonal in Ritter-Sport-Schokolade. Ritter Sport streitet mit der Stiftung Warentest, ob das aus Bakterien gewonnene Aroma als "natürlich" bezeichnet werden darf. Heute gilt sogar Aroma, das mithilfe genmanipulierter Bakterien gewonnen wird, als "natürlich".

STANDARD: Zucker wird aus Zuckerrüben oder Zuckerrohr hergestellt ...

Grimm: Zucker ist der erste industriell gewonnene Nahrungszusatz, historisch betrachtet. An sich kommt Zucker in Pulverform in der Natur ja gar nicht vor. Unser Körper kann diesen Stoff deshalb auch nur schwer verarbeiten, sagen Zuckerkritiker.

STANDARD: Was passiert?

Grimm: Dass Zucker die Zähne schädigt, ist offensichtlich. Er spielt aber auch eine Rolle bei Diabetes, Alzheimer und Krebs, Krankheiten, die die WHO als "non-communicable diseases" bezeichnet. Daran sterben 35 Millionen Menschen jährlich. Die Harvard Medical School hat errechnet, dass 180.000 Todesfälle im Jahr auf den übermäßigen Konsum von Softdrinks zurückzuführen sind. Coca-Cola allein bringt 16,5 Millionen Tonnen Zucker pro Jahr an seine Kunden.

STANDARD: Hier direkte Verantwortung herzustellen ist aber doch nur sehr schwer möglich.

Grimm: Das Dilemma ist Folgendes. Auf der einen Seite haben wir die epidemiologischen Daten. Daraus wissen wir, welche Erkrankungen zunehmen. Aussagen über die Ursachen sind schwieriger. Es gibt viele, oft widersprüchliche Studien. Man muss aufpassen, wer sie in Auftrag gibt. Teilweise ist es die Industrie selbst.

STANDARD: Aber es werden ja nicht alle Menschen krank?

Grimm: Essen ist einer von vielen Faktoren, die Krankheiten verursachen. Da wird intensiv geforscht. Aber Zucker spielt eine wichtige Rolle, sogar für den Fetthaushalt. Es gibt einen Mechanismus im Körper, der Zucker in Fett und Fett wieder in Zucker verwandeln kann, die Glukogenese. Sie ist eine Art Vorratsfunktion für schlechte Zeiten.

STANDARD: Was leiten Sie daraus ab?

Grimm: Mediziner wissen: Die Überdosis Zucker wird in Fett umgewandelt und in der Leber eingelagert. Damit lässt sich erklären, warum Zucker einen Einfluss aufs Cholesterin hat, auf die Triglyzeride, die als Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen gelten. Zucker lässt den Körper von innen verfetten. Es bringt nichts, sich cholesterinarm zu ernähren, aber weiterhin Zucker zu essen. Auch Krebszellen wachsen besser mit Zucker, das hat Ulrike Kämmerer von der Uni Würzburg gezeigt.

STANDARD: Gibt es gute und schlechte Zucker?

Grimm: Jeder raffinierte Zucker ist schlecht, sagen Zuckerkritiker und nehmen auch Süßstoffe nicht aus. Die Rezeptoren für Süßes auf unserer Zunge und sogar im Darm unterscheiden nicht und sorgen dafür, dass der Organismus sämtliche Mechanismen zur Verarbeitung anwirft. Auch Süßstoffe führen den Körper in die Irre.

STANDARD: Und Fruchtzucker?

Grimm: Kommt in der Natur vor und kann deshalb gut vertragen werden, wenn er, etwa in Obst, mit Ballaststoffen verzehrt wird. Ballaststoffe sind so etwas wie das Gegengift für Zucker. In industriell erzeugten Nahrungsmitteln kommt Fruchtzucker oft in isolierter Form vor, damit tut sich der Körper schwer. Er ist oft auch in normalem Zucker enthalten, der heute die in Verruf geratenen Geschmacksverstärker ersetzt.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Grimm: Auch in vielen salzigen Speisen oder Fertigprodukten ist Fruchtzucker enthalten. Nur 17 Prozent des verzehrten Zuckers ist Pulver, normaler Haushaltszucker, alles andere sind versteckte Zucker. Das führt zu einer Manipulation unserer Geschmacksnerven, ohne dass wir es merken.

STANDARD: Ist sich die Nahrungsmittelindustrie dessen bewusst?

Grimm: Natürlich, sie will ihre Produkte verkaufen, und Süße hilft dabei. Die Nahrungsmittelindustrie braucht Zucker, Aromen und andere chemische Hilfsmittel, um Waren lang haltbar zu machen. "Shelf life", also die Lebensdauer von Produkten im Regal, ist der Fachbegriff. Die Welt der Industrienahrung ist eine Parallelwelt, die mit echtem Essen gar nichts mehr zu tun hat.

STANDARD:Welche Rolle spielen die Ernährungswissenschaftler?

Grimm: Die meisten von ihnen arbeiten in der Industrie, auch Professoren sind meist industrienah. Es fehlt geistige Unabhängigkeit. Für eine Wissenschaft ist das katastrophal, zumal es um lebensnotwendige Ernährung geht.

STANDARD: Was ist mit Behörden?

Grimm: Die europäische Lebensmittelbehörde EFSA wurde in der Vergangenheit oft wegen ihrer Nähe zur Industrie kritisiert. Das ist ein Problem. Die Nahrungsmittelindustrie ist ein Wirtschaftsfaktor, oft beeinflussen die Lobbys die Gesetze. Ich war in Peking bei einer Sitzung des Codex Alimentarius, jenem Gremium der Vereinten Nationen, das die Standards für Lebensmittelsicherheit setzt. Da besteht die österreichische Delegation oft aus einem Vertreter der Regierung und einem von Red Bull. In der deutschen sitzt Südzucker, in der italienischen Ferrero, Danone bei den Franzosen; Coca-Cola, und Nestlé gleich in mehreren. Sie alle beeinflussen Entscheidungen in ihrem Sinn. Verbraucher sind nicht vertreten. Wenn es um Lebensmittel geht, hat Demokratie Pause. Für Nichtchemiker ist vieles auch nicht verständlich.

STANDARD: Wie halten Sie es selbst mit dem Essen?

Grimm: Ich kaufe längst nur mehr am Markt ein. Da gibt es echtes Essen. "Know your farmer" ist ein Trend auch in Großstädten. Es gibt Konsumenten Kontrolle zurück.

STANDARD: Inwiefern?

Grimm: In der industriellen Parallelwelt wissen ja die Mitarbeiter der Herstellerfirmen selbst nicht, was im Essen drinnen ist. Eine Folge der arbeitsteiligen Industrie ist, dass einzelne Personen oder Firmen gar keine Verantwortung mehr übernehmen können, weil niemand die globale Lieferkette überblickt. Wenn alle Menschen plötzlich echtes Essen wollten, hätten wir wirklich ein Versorgungsproblem. (Karin Pollack, DER STANDARD, 3.12.2013)