Das österreichische Gesundheitssystem reagiere zu wenig auf Erkrankungsrisiken, die spezifisch Kinder betreffen, kritisieren Experten.

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Wien - Die Studien sind gedruckt, die Expertenmünder fusselig geredet, die Zusammenhänge belegt: Arme Menschen werden in Österreich eher krank als Besserverdiener - und Krankheit ist ein veritables Armutsrisiko. Trotz der Sozialversicherung, die den Zugang aller zum Gesundheitssystem garantieren soll. Wie lange ein Mensch lebt und wie gesund er bleibt, bestimmen hierzulande vor allem Einkommen und Bildungsstand.

Depression und Aggression

Der Einfluss von Faktoren wie Rauchen und Ernährung auf die Gesundheit wird gerne überbewertet. Das größte Krankheitsrisiko sei, in eine arme Familie geboren zu werden, sagt etwa Armutsexperte Martin Schenk. 130.000 Kinder in Österreich leben in Armut, 270.000 sind armutsgefährdet. Je früher, je länger und je heftiger Kinder Armut erleben, desto drastischer sind die Folgen: Sie reichen von stressbedingten Ein- und Durchschlafstörungen bei Babys über Atemwegserkrankungen durch schimmlige Wände bis zu Depression und Aggression bei Jugendlichen, verursacht durch das Gefühl von Hilflosigkeit.

Das österreichische Gesundheitssystem reagiere zu wenig auf Erkrankungsrisiken, die spezifisch Kinder betreffen, kritisieren Experten: Die Wartezeiten für Therapien seien lange, kostenfreie Angebote ohne Selbstbehalte selten. Es mangle an aussagekräftigen Gesundheitsdaten zu Kindern.

"Eklatanter Versorgungsmangel"

Wie groß der Bedarf nach kostenloser Therapie für Heranwachsende ist, weiß Sonja Gobara, Obfrau des Vereins "Politische Kindermedizin" und ärztliche Leiterin des Ambulatoriums "Sonnenschein" in St. Pölten: Die Einrichtung betreut Kinder von null bis 18 Jahren – ohne Selbstbehalte. Die Folge: Das Institut wird überrannt. "Wir haben gerade wieder einen Aufnahmestopp verhängt", sagt sie. Ein Schulkind, das einen Logopädieplatz braucht, muss rund ein Jahr darauf warten. Gobara sieht einen "eklatanten Versorgungsmangel". Sie schätzt, dass 70.000 bis 80.000 Kinder, die eine Therapie bräuchten, unbehandelt bleiben. Eine Studie des Hauptverbandes geht gar von doppelt so vielen aus.

Schlimm sei die Situation auch für Kinder, die auf Hilfsmittel angewiesen sind, sagt Gobara. Rollstühle sind teuer, Zuschüsse schwierig zu bekommen, die nötigen Amtswege "fast schikanös". Bei medizinischen Schienen warten Familien manchmal so lange auf eine Entscheidung, bis die Kinder dem gewählten Modell bereits entwachsen sind.

Kompetenzdschungel

Der Verein wendet sich nun mit einer Resolution an die Politik. Ob er Gehör findet? Allgemeinmedizinerin Lilly Damm von der Medizinuni Wien ist skeptisch: "Ich arbeite schon lange in diesem Gebiet und muss sagen: Kinder kommen immer zuletzt dran." Ein Beispiel: In Deutschland gibt es seit 1988 eine Kinderkommission im Bundestag, die auf Anliegen der Kinder achtet. In Österreich? Nichts. Dafür gibt es einen Kompetenzdschungel. Für Damm, Forscherin im Bereich Child Public Health, ist die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern "eine der Ursachen für die schlechte Kindergesundheit". Dabei seien die Auswirkungen therapeutischer Maßnahmen langfristig zu sehen, sagt Damm: "Sie halten 60 oder 70 Jahre." Auch im Schulbereich gebe es Handlungsbedarf: Das System sei auf chronisch kranke Kinder nicht vorbereitet. Es gehe nicht darum, dass "Lehrer Krankenpfleger werden". Aber auch "chronisch kranke Kinder haben ein Recht auf Bildung. Das wird ihnen oft verwehrt. Es gibt zig Fälle, in denen kranke Kinder keinen Kindergartenplatz bekommen". Bis zu 20 Prozent aller Schulkinder dürften chronisch krank sein, wird geschätzt.

Säuglingssterblichkeit steigt

Die Folgen von Kompetenzdschungel und fehlender Analyse sozialer Ursachen von Krankheit zeigt ein ums andere Mal die Statistik: Österreich liegt bei Gesundheit und Risikoverhalten von Kindern europaweit an letzter Stelle. In keinem anderen EU-Land rauchen so viele Heranwachsende. Seit 2006 steigt auch die Säuglingssterblichkeit wieder an. Mittlerweile liegt Österreich hier europaweit an viertletzter Stelle.

Dabei gibt es fertig ausgearbeitete und bewährte Konzepte für mehr Kindergesundheit. Ein Modell sind "Frühe Hilfen": Dabei werden sozial schwache oder besonders belastete Eltern von Profis betreut und durch die Zeit nach der Geburt begleitet. Mit Erfolg.

In Wien haben Ärztekammer und Gebietskrankenkasse nun den Ausbau der Kinderpsychiatrie auf Krankenschein beschlossen: Immerhin sechs Kassenstellen werden 2014 für ganz Wien ausgeschrieben. (Lisa Mayr, Peter Mayr, DER STANDARD, 02.12.2013)