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Jede Schwangerschaft, die erst nach der 20. Schwangerschaftswoche diagnostiziert wird ist eine verleugnete Schwangerschaft.

Foto: APA/Maurizio Gambarini

Eine junge Frau geht mit Bauchschmerzen in das Krankenhaus und entbindet ein Kind. Von einer Schwangerschaft wusste sie bis zu diesem  Zeitpunkt nichts.

Ausbleibende Periode, morgendliche Übelkeit, wachsender Bauch und strampelnder Fötus - die Anzeichen einer Schwangerschaft scheinen unübersehbar, trotzdem wird nicht jede Gravidität als solche auch wahrgenommen.

"Die Verleugnung einer Schwangerschaft gibt es und ist auch gar nicht so selten", sagt Christof Brezinka, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe an der Universitätsklinik gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin in Innsbruck. Brezinka beschäftigt sich sei 25 Jahren mit dem Thema der verleugneten Gravidität und hat gemeinsam mit dem Berliner Gynäkologen Jens Wessel über 100 Fälle im Großraum Berlin und in Tirol analysiert. Die Eckdaten waren erstaunlich ähnlich:  Eine von 500 Schwangerschaften wird erst nach der 20 SSW diagnostiziert, eine von 2.500 Schwangerschaften wird erst beim Einsetzen der Geburtswehen entdeckt. Dieses Zahlenverhältnis deckt sich mit Statistiken aus den USA, Großbritannien und aus Frankreich.

Kreative Umdeutung

Hinter dieser Verleugnung ortet der Innsbrucker Experte eine gestörte Beziehung zum eigenen Körper: "Viele dieser Frauen haben unzählige Diäten hinter sich gebracht, und einige haben in ihrer Anamnese von einer Essstörung zu berichten." Die körpereigenen Signale werden von den Frauen dann nicht mehr wahrgenommen, oder aber die auftretenden Schwangerschaftsanzeichen kreativ umgedeutet. So wird die Gewichtszunahme auf vermehrtes Essen zurückgeführt und Kindesbewegungen mitunter als gesteigerte Darmtätigkeit interpretiert.

Die betroffenen Frauen konstruieren ihre eigene Realität und verleugnen mitunter, was nicht sein darf oder gar nicht sein kann. "Junge Mädchen, die ihre Sexualität vor den Eltern nicht eingestehen dürfen, Frauen, die sich in der Prämenopause befinden oder aber unter einem schweren psychopathologischen Konflikt infolge eines sexuellen Traumas leiden", zählt Martin Langer, leitender Oberarzt der Universitätsklinik für Frauenheilkunde in Wien und ausgebildeter systemischer Psychotherapeut, ein Reihe möglicher Verdrängungsmodelle auf.

Keine besonderen Merkmale

Die klassische Verleugnerin gibt es demzufolge nicht. Ebenso wenig gilt die weitverbreitete Meinung, dass diese Frauen generell eher von geringer Intelligenz, sexuell unerfahren und besonders jung sind. Das hat auch Jens Wessels Studie in Berlin bestätigt. Weder zeigten diese Frauen besondere Merkmale, noch gehörten sie einer speziellen sozialen Schicht an.

"Viele der betroffenen Frauen haben sogar schon eine Geburt hinter sich gebracht und sind mit den Kindesbewegungen und den körperlichen Veränderungen durchaus vertraut. Aus der eigenen kognitiven Instanz heraus wissen sie von ihrer Schwangerschaft aber tatsächlich nichts", ergänzt Langer.

Dieses Nichtwissen macht jedoch jede verleugnete Schwangerschaft per se zu einer  Risikoschwangerschaft, unter anderem deshalb, weil für diese Frauen kein Anlass besteht, beispielsweise auf Alkohol- oder Zigarettenkonsum zu verzichten. Im Gegensatz dazu zeigt sich aber auch, dass Kinder auch ohne Schwangerschaftsbetreuung und Kontrolluntersuchungen gesund auf die Welt kommen können.

Tragischer Infantizid

"Die schlechteren Mütter sind diese Frauen jedenfalls nicht", betont Langer. Eine Untersuchung durch einen Psychiater erfolgt in Österreich aber üblicherweise trotzdem, und in neun von zehn Fällen, so Brezinka, werden die Kinder ihren Müttern hierzulande auch nicht entzogen.

In den USA ist das anders: "Dort ist man der Meinung, dass Frauen, die eine Schwangerschaft negieren, ihr Kind eigentlich nicht haben wollen und verhinderte Kindsmörderinnen sind", sagt Brezinka. Der Nachweis einer stabilen Paarbeziehung reicht dann nicht aus, um die Obsorge für das eigene Kind zu bekommen.

"Nicht jede verleugnete Schwangerschaft führt zum Infantizid, aber fast jedem Infantizid geht eine verleugnete Schwangerschaft voraus", sagt Langer. Die Aufforderung zur anonymen Geburt - wie sie in Österreich üblicherweise empfohlen wird -, um die Betreuung der Schwangerschaft zu garantieren, hält der Wiener Gynäkologe deshalb für vollkommen sinnlos. "Wie kann eine Frau zur Schwangerschaftsbetreuung gehen, wenn sie von der eigenen Schwangerschaft überhaupt nichts weiß?"

Eine von 8.000 Schwangerschaften endet tatsächlich mit einer Kindstötung. Ein tragisches Ereignis, das Brezinka jedoch nicht ausschließlich auf strafrechtliche und kriminelle Aspekte reduzieren will. Als Mitglied der Association Française pour la Reconnaissance du Déni de Grossesse setzt er sich in Frankreich dafür ein, dass eine Psychopathologie in bestimmten Fällen anerkannt wird und diese Frauen nicht automatisch "als infame Kindesmörderinnen" dargestellt werden.

Als geradezu mild bezeichnet der Tiroler Experte im Vergleich zu Frankreich die Strafjustiz in Österreich. Er erinnert an eine junge rumänische Prostituierte, die vor einigen Jahren in einem Salzburger Bordell völlig unerwartet ein Kind zur Welt brachte und dieses aus dem dritten Stockwerk aus dem Fenster geworfen hat. Das Kind hat diesen Sturz nicht überlebt, und die Mutter wurde zu acht Monaten bedingter Haft verurteilt. "Wäre der gleiche Fall in Frankreich passiert, hätte diese Frau sicher acht Jahre unbedingt bekommen", sagt Brezinka.

Umgebung miteinbeziehen

Egal aber, ob hinter der völligen Verleugnung einer Schwangerschaft eine schwere psychiatrische Erkrankung oder aber eine reduzierte Körperwahrnehmung infolge einer Essstörung steckt, bleibt noch die Frage offen: Wie ist es möglich, dass die Umgebung, Angehörige oder ein Partner von der Schwangerschaft einer Frau nichts bemerken?

"Es ist ganz typisch, dass Angehörige und auch Mediziner in das Gedankengebäude mit eingebaut werden", sagt Langer. Vor einigen Jahren wurde ein Fall publiziert, der dieses Szenario perfekt demonstriert. Eine Frau kam mit Bauchschmerzen wegen eines vermeintlich verschluckten Hühnerknochens in die Ambulanz am Wiener AKH. Sie beschrieb ihre Geschichte so glaubwürdig, dass ein Bauchröntgen angefertigt wurde, um das verschluckte Hühnerteil zu orten. Das Ergebnis war für alle überraschend: Der Knochen stellte sich auf dem Röntgenbild als gesamtes Kinderskelett dar. (Regina Walter, derStandard.at, 9.12.2013)