Fädelt sich mit Erkenntnissen aus der Hirnforschung in die Debatte um Bildungs- und Berufsentscheidungen ein: der klinische Psychologe Johann Beran.

Foto: Business Circle

STANDARD: Probleme mit dem guten Schlafen sind ein großes Phänomen geworden. Schlaf werde unterschätzt, sagen Sie. Wieso?

Beran: Die Ursachen und Auslöser für Schlafprobleme sind vielfältig. Allgegenwärtig in unserer Gesellschaft und kontraproduktiv für einen gesunden Schlaf ist die Permanentbestrahlung mit blauem Licht aus elektronischen Geräten, Computern, dem Fernsehen, den Smartphones. Blaues Licht kommt in der Natur nur am Morgen und tagsüber vor und signalisiert dem Körper: aufwachen, wach bleiben, nicht schlafen. Es wird daher weniger Melatonin produziert, was wiederum die Tiefschlafphasen reduziert. Ohne diese, in denen sich das Gehirn leicht zusammenzieht, funktioniert die Müllentsorgung im Gehirn aber nicht - oder nur schlecht. Das Gehirn kann nicht mehr benötigte Stoffe nicht ausreichend ausschwemmen. Besonders schädlich ist das während der Pubertät.

STANDARD: Weil?

Beran: Während der Pubertät findet ein riesiger Umbau im Gehirn statt - von der mächtigen Steuerung der Emotionen im limbischen System bis nach vorne zum Kontrollsystem. Dabei entsteht eine Menge Müll, etwa sogenannte Neuropeptide, die das Gehirn im Tiefschlaf ausschwemmen will. Pubertierende brauchen daher besonders viel Tiefschlaf, sonst kommt es zu Schädigungen. Nicht schnell, nicht unmittelbar sichtbar, aber leise und schleichend. Dass die Möglichkeit, ausreichende Tiefschlafphasen gerade in dieser Zeit zu erleben, so wichtig ist, ist dem Bildungssystem, den Unternehmen, der Gesellschaft aber wurscht. Die Bildungsgesellschaft reagiert bis heute nicht auf die Gegebenheiten des Gehirns.

STANDARD: Also grundsätzlich einmal späterer Schul- und späterer Arbeitsbeginn?

Beran: Ja, sicher. 8.00 Uhr ist gerade für Pubertierende viel zu früh. Neun Uhr wie in Großbritannien ist schon früh. Überhaupt können Pubertierende das, was wir in dieser Zeit an Entscheidungen und Lebensplanung von ihnen verlangen, nicht leisten. Sich in dieser Zeit für einen Beruf, eine bestimmte Lehre zu entscheiden ist quasi unmöglich. In der Pubertät kann sich der IQ noch um bis zu 20 Punkte nach oben oder unten verändern. Deshalb wäre eine andere Förderung durch das Bildungssystem auch wünschenswert. Leider wird oft nur Inhalts-Inselwissen gelehrt ohne sinnvolle Verknüpfungen, und die fehlen dann im Gehirn. Mathe als Projektunterricht wäre da etwas ganz Tolles.

STANDARD: Sie können diese Entscheidungen nicht treffen, weil sie in der Zeit der Pubertät nicht klar denken können?

Beran: So würde ich das nicht sagen. Aber: Während dieses riesigen Umbaus im Gehirn haben die Pubertierenden phasenweise keinen Zugriff auf das Kontrollsystem im Vorderlappen. Das verunmöglicht phasenweise logisches Denken. Das ist keine Theorie, das lässt sich messen - wir wissen das sehr genau, seit wir in Gehirne schauen können, ohne sie zu beschädigen. Der Gefühlszustand in dieser Zeit ist der eines Ich-Entzugs. Der Platz in der Welt ist entzogen und wird neu gesucht. Und dazu kommt noch die massive Bombe der Sexualhormone. Die Verletztbarkeit des Gehirns ist bei Pubertierenden massiv erhöht. In dieser Zeit tauchen auch Krankheiten wie Schizophrenie auf, depressive Phasen entstehen. Die Serotonin- und Dopamin-Steuerung funktioniert nicht mehr - weil pubertierende Gehirne nur etwa ein Drittel der üblichen Dopamin-Menge ausschütten, suchen die Jungen auch nach dem "Kick", brauchen stärkere Reize, brauchen Abenteuer. Was früher in der Natur mit Räuber-und-Gendarm-Spielen stattgefunden hat, wird heute vielfach in Shooter-Spielen gefunden: der Kick, das Abenteuer. Und: Dopamin brauchen wir auch, um Lernerfolge als solche verbuchen zu können.

STANDARD: Zurück zu den Weichen, die zwischen 14 und 18 zu stellen sind, zu den Entscheidungen über den Berufsweg. Wann wäre besser? Wie wäre es besser, gehirngerechter?

Beran: Drei, vier Jahre später. Wir richten enormen Schaden an, wenn wir den jungen Leuten in diesem großen inneren Umbruch sagen, dass sie für dies und jenes nicht gut genug sind, diese und jene Berufswege jetzt unbedingt erfolgreich beschreiten müssen, statt sie dabei zu unterstützen, ihren Platz und ihren Wert in der Gesellschaft zu suchen. Vor allem wenn Unternehmen solche Jungen wissen lassen, dass sie gern fixfertig ausgebildeten Nachwuchs nehmen - aber beim Wachsen begleiten: nein. Da kann sehr viel kaputtgehen. Jedes Wesen, jedes Gehirn lernt und formt sich je nachdem, wie es behandelt wird, je nachdem, was es erlebt. Da unser Gehirn an allen Vorgängen des Lebens beteiligt ist, wäre ein Umdenken in vielen Lebensbereichen sinnvoll. (Karin Bauer, DER STANDARD, 14./15.12.2013)