Im embryonalen Rückenmark wird der neu beschriebene Nervenzelltyp sichtbar (violett gefärbt).

Foto: MPI für Neurobiologie / Paixão

München - Kleinkinder entwickeln und perfektionieren innerhalb kurzer Zeit motorische Fähigkeiten, wie sie für Erwachsene selbstverständlich sind. Doch wie entwickelt sich im Nervensystem die Fähigkeit, fein koordinierte Bewegung auszuführen? Wissenschafter des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried bei München haben nun Kollegen aus New York und Philadelphia einen neuen Nervenzelltyp in Mäusen beschrieben, der einen wichtigen Einblick in diese entwicklungsbiologische Frage gibt. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie im Fachmagazin "Cell".

Greifen wir mit der Hand gezielt nach einem Objekt oder bewegen unseren Fuß, koordiniert und kontrolliert das Gehirn diese Bewegungen. Damit dies möglich ist, muss es eine Nervenbahn geben, über die Anweisungen vom Gehirn zum Beispiel zum Fuß geschickt und umgekehrt auch Reize aus der Fuß-Umgebung an das Gehirn geleitet werden. Solche Nervenbahnen entstehen, wenn die Fortsätze (Axone) von Nervenzellen während der Entwicklung auswachsen. Je nach Organismus und zu bewegendem Körperteil können die Axone dabei viele Zentimeter lang werden. 

Paralleles Zellenwachstum

Wie sie dabei ihren Weg durch den Körper finden und welche Moleküle bei der Wegfindung eine Rolle spielen, untersuchen Rüdiger Klein und sein Team am Max-Planck-Institut für Neurobiologie. Im Fokus der Wissenschafter stehen besonders die Ephrin- Signalmoleküle und ihre Bindungspartner, die Eph-Rezeptoren. Ephrine und Eph-Rezeptoren befinden sich unter anderem auf der Oberfläche von Nervenzellen und helfen den wachsenden Zellen, ihren Weg und ihre Partnerzellen zu finden.

Ephrine und Eph-Rezeptoren sind wesentlich am Aufbau der neuronalen Netze beteiligt, die unsere Bewegungsabläufe steuern. Das fanden Klein und sein Team bereits vor längerer Zeit durch Experimente an Mäusen heraus. Die Neurobiologen konnten zeigen, dass das Ephrin/Eph-System Nervenzellen leitet, die ihre Axone nach der Geburt vom Gehirn ins Rückenmark schicken und willkürliche Bewegungen von Beinen und Armen lenken.

Bei der Untersuchung von Axonen, die in die entgegengesetzte Richtung verlaufen, also vom Rückenmark ins Gehirn, stießen die Forscher nun auf einen neuen Zelltyp, der ebenfalls Eph-Rezeptoren enthielt. "Genau dort, wo die 'absteigenden' Axone wuchsen, verliefen parallel dazu auch die 'aufsteigenden' Axone", berichtet Klein. "Da haben wir uns natürlich gefragt, wie dieses parallele Wachstum in der Entwicklung gesteuert wird."

Rückkopplungssystem

Die darauf folgenden Untersuchungen der Neurobiologen zeigten Erstaunliches: Im Gegensatz zu den bekannten Zellen wuchsen die aufsteigenden Axone des neuen Zelltyps nicht erst nach der Geburt, sondern bereits während der Embryonalentwicklung aus. Zudem wurde ihr Wachstum vom gleichen Ephrin/Eph-Signalsystem geleitet, wie das der absteigenden Axone. "Es sieht so aus, als würden die aufsteigenden Axone während der Embryonalentwicklung sozusagen einen Kanal für die erst nach der Geburt auswachsenden, absteigenden Axone vorbohren", so Klein.

Die weiteren Untersuchungen der neuen, aufsteigenden Nervenzellen legen nahe, dass sie ihren Input von berührungsempfindlichen Zellen erhalten. Es könnte sich daher um ein bisher unbekanntes Rückkopplungssystem handeln: Willkürliche Bewegungen werden durch Signale von berührungsempfindlichen Zellen verfeinert, und so die beabsichtigte Bewegung der Umgebung angepasst. "Was uns erstaunt hat, ist die Tatsache, dass ein und dasselbe Leitsystem die absteigenden und auch die aufsteigenden Axone lenkt", so Klein.

"Es ist ein sehr schönes Beispiel dafür, wie mit dem flexiblen Einsatz einzelner Moleküle, und somit mit wenigen Genen, ein hochkomplexes Nervensystem aufgebaut werden kann," sagt der Neuorobiologe. Ob es sich tatsächlich um das vermutete Rückkopplungssystem handelt, die auf- und absteigenden Zellen also über Synapsen verbunden sind, wollen die Wissenschafter als nächstes herausfinden. Sie hoffen, damit die entwicklungsbiologischen Vorgänge entschlüsseln zu können, durch die das Gehirn Bewegungsabläufe koordinieren und steuern kann. (red, derStandard.at, 25.12.2013)