Auf du und du mit Erdgöttinnen, dem "Herrn vom Amt" und diversen himmlischen und (allzu) irdischen Erscheinungen: Autor Liko (alias Wolfgang Seidelbast).

Foto: Müry Salzmann Verlag

Wien - Einer der merkwürdigsten neuen Erzähler in Österreich ist praktizierender Ministrant. Von ferne erinnert der Salzburger Wolfgang Seidelbast (54) an einen Domherrn. Seidelbast, der sich "Liko" nennt, war laut eigenen Angaben bereits Kirchenmaler, Kindergärtner und Pfleger. Den Landvermesser nimmt man ihm ab. In seinen Erzählstücken wird nicht selten in der Landschaft herumgemessen. Noch häufiger schweift der Blick der Figuren hinauf ans Himmelszelt. Doch auch von oben kommt nichts Gutes. Es sei denn, man schätzt Zyklopen oder Priesterinnen der Erdgöttin Nerthus.

Likos erzählte Welt ist komplett unglaubwürdig. Das lässt sie so überzeugend erscheinen neben den Lebensentwürfen Latte macchiato trinkender Wohlstandsprosaisten. In den sechs Erzählungen von Bergers Kugel tobt das Chaos. Männer, die als Landvermesser starten, enden als Odysseus. Wer lange genug hinter dem Salzburger Ortsteil Aigen in den Himmel starrt, sieht die Raute der Heiligen Hildegard von Bingen aufklaffen.

Manchmal werden Likos Figuren prompt ins All hinausgeschleudert. Bei anderer Gelegenheit reicht es schon aus, entlang der Salzach spazieren zu gehen. Fruchtbarkeitsgöttinnen teilen furchtbare Schläge aus. Der Erzähler in Nanas Quadratur hält trotzdem durch. Er zieht die Konsequenzen und kauft sich vorsorglich eine Brillenfassung aus Titan. Er schwängert die wilde Frau kurzentschlossen, da er meint, durch sie wiedergeboren zu werden. Bald bemerkt er seinen Irrtum. Er gibt an, den Schlichen einer "Quadrathexe" aufgesessen zu sein, wohinter sich eine Unterart der Erdhexe verbirgt.

Jenseits der Grenzen

Bemerkbar wird ihm das Kesseltreiben der Frau, weil sie sich einer grauenhaften "Sozialstaatsvokabulatur" bedient. Die Alltagswelt verdient nach Likos Ermessen keine Hervorhebung. Das hebt sein Buch vom Mainstream ab. Den wichtigsten Auftrag erhält der Erzähler vom "Herrn des Amts" persönlich. Gott besitze eine helle Stimme. "Mach dich auf die Suche nach deiner Mutter!", bedeutet ihm der Herr, der weiter sagt: "Rette das Herz Österreichs!"

Die ungeborene Seele fliegt auf Zephyrs Schwingen ins Waldviertel. Auf 35 Seiten bringt Herz Österreichs das Zustandekommen der Zweiten Republik zur Spracher. In einem Landstrich, wo Fasching herrscht, betrachtet der Geist seine Familie wie ein Ethnologe. Als Schwalbe fliegt der Ungeborene bis nach Gmünd. Er sieht, wie seine Mutter in spe dem Nazismus auf den Leim geht.

Er bemerkt, dass sein Großvater das Unglück hat, wie ein berühmter georgischer Diktator auszusehen. Die NS-Zeit wird mit diversen Blessuren überstanden. Die Mama wird Textilverkäuferin. Als der Erzähler endlich zur Welt kommt, hat er verkrüppelte Beine. Der geschundene Jude von 1938 kehrt als Arzt wieder und hilft, die Gliedmaßen zu kurieren. "Ich gedieh in jubelndem Glück", schreibt Liko.

Die Mutter aber verkleidet ihren Buben als "Wolferl": mit silberner Kniebundhose. Österreich hat seinen historischen Auftrag angenommen. Likos Figuren sind Helden mit latenten Aggressionen. Auch wenn ihnen die Welt des Übersinnlichen zu Hilfe kommt, so schlummern doch ungeahnte Kräfte der Zerstörung in ihnen.

Likos Debütband Bergers Kugel ist ein originelles, heiteres, vitales Buch. Die Unbedenklichkeit der Erzählweise erinnert an die Großmeister der 1970er-Jahre, an die freien Improvisationen Jürg Laederachs. In der Art aber, wie Liko okkultes Wissen mit heiterstem Unernst durcheinanderschüttelt, blitzt das Genie der großen Lateinamerikaner auf. Man darf die Namen ruhig nennen: Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares. Aber Liko hat ja gerade erst angefangen. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 20.12.2013)