Auf Urlaub: Wahid Ahmadi wurde 2004 von Maria Kovacs und ihrem Ehemann Attila adoptiert.

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Familienbild mit Attila und Fatima, auch ein Patenkind der Kovacs'. Fatima stammt ebenfalls aus Afghanistan und hat schon einen kleinen Sohn.

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derStandard.at: Ihr Mann war 65, Sie 54 Jahre alt, als Sie wieder Eltern wurden. Sie hatten schon vier erwachsene Kinder: Wie kommt man in dieser Lebenssituation auf die Idee, afghanische Flüchtlinge zu adoptieren?

Kovacs: Das hat sich so ergeben: Uns hat in der Zeit Jörg Haiders dieser Fremdenhass maßlos gestört, dem man so ohnmächtig ausgesetzt war. In einer Zeitung hatte ich dann gelesen, dass jemand gesucht wird, der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen hilft und mit ihnen Zeit verbringt. Wir haben uns gemeldet. Nach einer Einschulung haben wir Wahid zugewiesen bekommen. Unser erster Treffpunkt war das Jugendamt. Er war sehr verwirrt und konnte fast kein Wort Deutsch.

Ahmadi: Damals, Mitte 2003, war ich gerade einmal sechs Monate in Österreich. Jeden Tag war ich im Jugendheim. Aber wie kann man dort etwas lernen? Ich konnte kaum Deutsch, es gab aber auch keinen Sprachkurs. Den habe ich erst später nachgeholt. 

derStandard.at: Ist das nicht seltsam, wenn wildfremde Menschen auf einmal als "Paten" da stehen?

Kovacs: Klar. Er hat sich nicht ausgekannt. Wahid hat sofort nach unseren Kindern gefragt, weil ihm das offenbar Sicherheit gegeben hat. Wir haben an diesem Tag gleich unsere Kinder samt Enkerln hergeholt, damit er sie sehen kann. Die Kinder sollten ein bisschen Vertrauen schaffen. Wir sind keine bösen Menschen.

Ahmadi: Das hatte ich mir schon gedacht. Alte Menschen! Ich kam ja 1986 auf die Welt.

Kovacs: Wir haben ihn in den Deutschkurs geschickt und ihn zum Hauptschulabschluss angemeldet. Er hat damals noch im Heim gewohnt. In der Früh ist er in die Schule gegangen, mittags war er dann schon bei uns. Dann hieß es, dass das Heim umgebaut werden soll, und es war nicht klar, wohin er verlegt würde. Er hätte auch in andere Bundesländer verlegt werden können. Da hat er gefragt, ob er nicht bei uns wohnen könnte. Warum auch nicht?

derStandard.at: Ende 2004 folgte die Adoption. Warum?

Kovacs: Die Adoption war notwendig, weil ich nicht wollte, dass er herumlungert. Sein Asylverfahren lief noch und er durfte daher nicht arbeiten. Da kam dann die Idee auf, ihn zu adoptieren.

Ahmadi: Ich durfte zum Sprachkurs und in die Schule. Das war’s! Schwarzarbeit? Das wollte ich nicht. Den ganzen Tag also fernsehen? Das ist doch nichts! Nur essen, herumsitzen und schlafen, da wird man krank. Das Leben in einem Heim ist schrecklich.

derStandard.at: Ist so eine Adoption schwierig?

Kovacs: Naja, schwierig war es, weil Wahid ja noch eine leibliche Mutter hat. Da brauchte es dann eine Art Einwilligung von ihr. Das war sehr schwer zu bekommen. Seine Mutter ist Analphabetin und lebt in Peshawar. 

derStandard.at: Wie haben eigentlich Ihre eigenen Kinder diese Adoption aufgenommen?

Kovacs: Höchst unterschiedlich. Die zwei Mädchen hatten keine Probleme, die zwei Jungs haben bisschen länger gebraucht.

derStandard.at: Und wie hat das restliche Umfeld reagiert?

Kovacs: Sagen wir so: Es waren nicht alle begeistert, dass wir das gemacht haben. Aber so richtig Negatives habe ich nicht gehört.

Ahmadi: Ihr habt es auch nicht gleich überall herumerzählt.

derStandard.at: Hat es Sie zufällig nach Österreich verschlagen, Herr Ahmadi?

Ahmadi: Ja. Ich wollte auch gar nicht hierbleiben. Mein Ziel war es, nach England zu gehen. Hier bin ich hängengeblieben, weil mir das Geld ausgegangen ist. Wegen 300 US-Dollar bin ich in Österreich geblieben.

Kovacs: Wegen 300 US-Dollar haben wir einen Sohn dazugewonnen!

Ahmadi: Später hatte ich das Geld, aber da war schon die Familie da, eine Wohnung. Am Anfang hatte ich ja niemanden und dazu noch meine Sprachprobleme.

derStandard.at: Frau Kovacs, Sie haben später noch einen Afghanen adoptiert. Warum?

Kovacs: Das stimmt. Wir haben ehrenamtlich Geld für Monatskarten der Wiener Linien aufgetrieben. Da war einmal Ashgar dabei. Er wollte kein Geld, er wollte Arbeit. Uns ist es tatsächlich gelungen, für ihn eine Lehrstelle bei einem Schuhmacher zu ergattern. Es gab eigentlich keine Notwendigkeit zur Adoption. Er hat sich nur als Mensch zweiter Klasse gegenüber Wahid gefühlt. Das war dann ausschlaggebend. Ashgar hat mittlerweile schon seine eigene Familie gegründet.

derStandard.at: Sprechen Sie über Ihre Flucht? Oder versuchen Sie eher, das zu vergessen?

Ahmadi: Ich habe alles vergessen! Die Vergangenheit war schrecklich und traurig. 90 Prozent davon waren schlechte Tage. Ich kenne eine Familie, die eine Tochter auf ihrer Flucht verloren haben. Sie ist ertrunken. So etwas passiert oft. Es gibt sehr wenige Leute, die leicht hergekommen sind. Hunger und Durst, dann die Kälte. Das ist alles andere als lustig.

derStandard.at: Fühlen Sie sich als Wiener, Österreicher oder als Afghane?

Ahmadi: Ich bin Ausländer. Egal, ob ich die Staatsbürgerschaft bekomme oder nicht. Ich bin der Schwarzkopf! Für Österreicher bin ich das immer. Aber das stört mich nicht wirklich.

derStandard.at: Wollen Sie die Staatsbürgerschaft?

Ahmadi: Ich habe es schon einmal versucht. Das wurde abgelehnt, weil ich ein paar wenige Tage dazwischen angeblich illegal in Österreich war.

Kovacs: Du musst aber auch sagen, warum! Die Fremdenpolizei hat uns gesagt, dass wir aufgrund der Adoption das Asylansuchen zurückziehen sollen. Das haben wir gemacht. Die Behörde hat dann ein paar Tage für die Koordination gebraucht. Das ist exakt jene Zeit, die dann für den negativen Bescheid ausschlaggebend war. Dieser Fehler wird ihm angelastet.

derStandard.at: Beschäftigt Sie Österreichs Asyl- und Fremdenpolitik, Herr Ahmadi?

Ahmadi: Nein, nicht wirklich. Das ist uninteressant. Ich habe dafür auch keine Zeit. Ich bin hier, ich bleibe auch hier. Und irgendwann klappt es auch mit der Staatsbürgerschaft.

Kovacs: Ich glaube ja, er will das gar nicht so genau wissen, weil es ihn sonst total ärgern würde. Außerdem hat er natürlich ganz andere Probleme.

derStandard.at: Verspüren Sie schon den Drang, dem nächsten Kind zu helfen?

Kovacs: Ich habe längst ein neues Patenkind. Er ist derzeit in Salzburg und durchläuft das Verfahren. Er ist ein Freund von Wahid. Wenn er subsidiären Schutz bekommt, was wir hoffen, dann holen wir ihn her. Es ist wichtig, jemanden ein Stück weit zu begleiten. Bis er oder sie heimisch wird. Wahid hat zum Beispiel die Telefonnummer seiner Mutter verloren. Das war ein großes Problem, weil er ja nicht wusste, ob er jemals wieder Kontakt mit ihr haben wird. Ich dachte anfangs bei diesem Projekt vom Verein Asylkoordination: Ich helfe dem Buben ein bisserl Deutsch lernen. Jetzt ist er unser Sohn.

Ahmadi: Weil ich auch so nett bin!

Kovacs: Ja, eh. Wie lernt man auch sonst einen Flüchtling kennen? Einfach auf der Straße wird man wohl niemanden ansprechen. Das ist absurd. 

derStandard.at: Haben Sie manchmal Heimweh?

Ahmadi: Ja, manchmal denke ich schon an Afghanistan, an den Platz, wo ich auf die Welt gekommen bin. Wo ich mit meiner Familie gelebt habe. Ich habe schon vor, irgendwann dorthin zu fahren, um zu schauen, wie es jetzt aussieht. Diese Gedanken, die tun manchmal schon weh.

derStandard.at: Feiern Sie Weihnachten?

Kovacs: Auf Wunsch zweier Enkel, die das Fest zu Hause organisieren wollen, nur mit einem Teil der Familie – rein aus Platzgründen. Dafür geht’s tags darauf weiter. (Peter Mayr, derStandard.at, 20.12.2013)