Bild nicht mehr verfügbar.
Schaltet und waltet nach Gutdünken, um schließlich unverdient aus allen Wolken zu fallen: Klaus Maria Brandauer als impulsiver König Lear mit Corinna Kirchoff (li.) und Pauline Knof.
Wien - Der Thronsessel für Lear ist beinahe zierlich. Geschäftig eilt der König auf die Bühne des Wiener Burgtheaters. Hinter dem Portal aus grauen Quadern liegt ein leerer Horizont (Ausstattung: Ferdinand Wögerbauer). Vater Lear beugt sich über eine Landkarte aus Lederhaut. Der tausendfach erprobte Tyrann hat Unmögliches im Sinn. Er möchte sein mühsam zusammengeflicktes Land unter den Töchtern aufteilen.
"Sorg' und Müh'" will Lear von sich abschütteln. Die Mädchen blickt der Potentat im räudigen Mantel mitleidig an. Den Plan des aufgeteilten Landes fährt er mit der Fliegenklatsche ab. Klaus Maria Brandauer spielt König Lear. Sein Plan dünkt ihn gut. Drei Töchter auf einen Streich! Der Greis ist ein Stammeshäuptling, seine Stimme süß wie Honig.
Shakespeares König Lear ist keine Gestalt der Moderne. Er stürzt, ohne alles falsch gemacht zu haben, in den Abgrund. Die Ordnung, die ihm unumstößlich vorkommt, bricht morsch zusammen. "Aus Nichts kann Nichts entstehen", erklärt er Cordelia (Pauline Knof), seiner Jüngsten. Die weigert sich nämlich, ihm nach dem Mund zu reden. Die beiden Älteren sind Kummer mit Papa gewöhnt. Die giftgrüne Goneril (Corinna Kirchhoff) hat ein schmerzgeplagtes Gesicht. Sie kann Vaters Gewinsel nicht ertragen. Die weinrote Regan (Dorothee Hartinger) ist die sozial elastischere.
Ausgerechnet das Nesthäkchen (Knof) lässt aus. "Was? Was? Was?", kommentiert der Vater die töchterliche Zurückhaltung. Cordelia möchte ihm partout nicht schmeicheln. Und Brandauer bringt den schönsten Effekt der ganzen Inszenierung flirrend zum Tragen. Es ist egal, was die Kinder sagen, solange nur niemand seine Launen infrage stellt. Lear kann eine Fliege erschlagen. Genauso gut könnte er keiner seiner Töchter etwas zuleide tun. In Wahrheit verhält es sich wohl umgekehrt. Des Königs losbrechendes Gezeter ist unmanierlich. Es zeigt, dass Papas Eingebungen auf Zufall beruhen.
Bestünde Peter Steins Lear-Inszenierung nur aus der Läuterung eines verstockten Stammeshäuptlings - sie wäre wohl als gelungen zu bezeichnen. Steins Theater ist aber mehr und auch weniger zugleich. Es will den Gegenstand seines Interesses durchsichtig machen. Damit ist das Interesse am Stoff auch schon erloschen. Stein drückt sich um Stellungnahmen herum. Sein Theater erklärt die künstlerischen Errungenschaften der letzten 40, 50 Jahre für ordinären Mumpitz.
Hört man im Text die Trompete blasen, dann erscheint auch wirklich ein Trompeter mit langem Messingtrichter auf der Bühne. Die Geharnischten tragen Lederwämser. Sie bohren die Fahnenstangen in den mit Streu bedeckten Heideboden. Die große Parallelgeschichte in König Lear, der Verrat des Bastards Edmund (Michael Rotschopf) an seinen Vater Gloster (Joachim Bißmeier), wird treuherzig vom Blatt gespielt.
Bißmeier, der an die Sterne glaubt, streckt die Arme hinaus ins finstere All. Brandauers Lear tut es ihm gleich. Lauter alte Männer, die nicht verstehen, dass man mit Skrupellosigkeit die Welt umstürzt. Die Narren (Michael Maertens) behalten als Einzige den Überblick. Maertens schlurft mit krummer Nase und kleidsamer Schellenkappe durch die leere Landschaft. Immerhin hat Stein seinen gaumigen Verzückungston auf Zimmerlautstärke heruntergestimmt. Edgar (Fabian Krüger), der sich als Erdgeist "Tom von Bedlam" verkleidet, bleibt trotz Mammutprogramms blass.
Triumph des Lebkuchens
Lears Sturz in die Bodenlosigkeit ist ein Triumph des Lebkuchentheaters. Der König hat sich vor dem Rücktritt 100 Ritter zu seiner Begleitung ausbedungen. Die Rotte stapft auf die Bühne, als würde Wallensteins Lager gegeben. Ein echter Hirsch soll zum Schmaus gereicht werden! Lear sitzt derweil im Vordergrund, auf einer Heurigenbank. Sein weißes Haar hat er unter eine Wollmütze gesteckt. Gleich wird er Wildbret essen. Aufgetischt wird ihm aber Zank und Hader. Goneril keift mit ihm. Lears Blick verliert den Halt. "Bist du meine Tochter?", kräht er.
Leider gibt die Regie Brandauer keinen Halt. Die Flucht auf die Heide erzeugt Phosphorblitze und Lichtstimmungen aus dem Jolly-Buntstiftekasten. Irgendwann trägt der - neben Gloster - ärmste Greis der Welt eine Dornenkrone aus Stroh.
Brandauer gelingen durchaus Momente einer schönen Wahrhaftigkeit, innig und schlicht, zumal wenn er sein jüngstes Kind (Cordelia) beweint. Im Zusammenhang mit den von Peter Stein veranstalteten Ritterspielen kämpft er auf verlorenem Posten. Als Stein zum Schlussapplaus auf die Bühne kam, blieb Brandauer verschwunden. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 23.12.2013)