Er kam wie ein einfacher Bürger zu seiner Vereidigungszeremonie. Ohne Autokonvoi, Sirenen und Eskorte. Stattdessen fuhr er bescheiden Metro und brach so demonstrativ mit Indiens notorischer VIP-Kultur. Am Samstag wurde der Politnovize Arvind Kejriwal als neuer Regierungschef des Stadtstaates Delhi eingeschworen - und Zehntausende feierten ihn fast wie einen Erlöser. "Heute Delhi, morgen das ganze Land", rief die Masse, die selbst die Polizei konservativ auf 100.000 Menschen schätzte.
Kejriwal löst "Tante" Sheila Dikshit (75) von der Kongresspartei ab, der die Wähler nach 15 Jahren die rote Karte gezeigt hatten. Man könnte dies als bloßen Machtwechsel in Delhi abtun, aber es ist weit mehr: Kejriwals Aufstieg kommt einer stillen Revolution gleich, die, sollte sie Schule machen und sich ausweiten, das alte Machtgefüge Indiens erschüttern und die korrupten Eliten hinwegfegen könnte.
Nicht von ungefähr ist das Symbol von Kejriwals Aam Aadmi Partei (AAP), der Partei des einfachen Mannes, ein Besen. Der 44-Jährige mit der weißen Kappe und den unmodischen Pullovern wird von einer Mission getrieben: mit der Korruption aufzuräumen, die das Land im Würgegriff hält.
Schon sein Amtsantritt war beispiellos. Gleich am ersten Tag strafversetzte er neun Beamte. Er verzichtete auf eine noble Stadtvilla, die ihm zustünde, und will in seiner bescheidenen Etagenwohnung bleiben. "Unser Land wird ausverkauft", klagt er. "Wir müssen das System säubern." Als ehemaliger Finanzbeamter weiß er, wovon er spricht. 2006 schied er freiwillig aus dem Staatsdienst aus, um Aktivist zu werden.
Die AAP ist aus den Antikorruptionsprotesten des "Volkshelden" Anna Hazare (76) hervorgegangen, der mit seinem Hungerstreik 2011 Zehntausende mobilisierte. Kejriwal überwarf sich später mit Hazare und gründete im Oktober 2012 die AAP. Lange räumte niemand der Newcomer-Partei ernsthafte Chancen ein.
Doch die etablierten Parteien hatten offenbar den Unmut der Wähler völlig unterschätzt. Bei den Wahlen Anfang Dezember in Delhi verblüffte die AAP mit einem spektakulären Debüterfolg. Aus dem Stand wurde sie mit 28 von 70 Sitzen zweitstärkste Kraft - nur knapp hinter der Hindu-Partei BJP. Die Kongresspartei schmolz auf acht Sitze zusammen.
Nachdem die BJP sich weigerte, eine Minderheitenregierung zu führen, erklärte sich die AAP bereit. Kejriwal geht damit ein hohes Risiko ein. Auf ihm ruhen nicht nur die Hoffnungen von Millionen Wählern in Delhi. Ganz Indien blickt gespannt auf das Experiment im Stadtstaat. Im Mai 2014 stehen Bundeswahlen an. (Christine Möllhoff aus Neu-Delhi, DER STANDARD, 30.12.2013)