"Kleine Kinder brauchen Eltern, die in sich ruhen. Anleiten und begleiten ist praktisch verlorengegangen", klagt Kinderpsychiater und Buchautor Michael Winterhoff.

Foto: Bertelsmann Verlag

Das gerade erschienene Buch "SOS Kinderseele" beschäftigt sich mit dem Verlust der emotionalen und sozialen Intelligenz von Heranwachsenden und warnt vor
den Folgen für die Gesellschaft.

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derStandard.at: Die Bilanz Ihres Buches "SOS Kinderseele" ist ernüchternd: Harmoniesüchtige Eltern erziehen egomane, verhaltensauffällige Kinder. Ist es wirklich so schlimm?

Winterhoff: Von außen betrachtet sieht es vielleicht so aus, als seien die Eltern inkonsequent und harmoniesüchtig. In Wirklichkeit liegt es daran, dass das Kind gar nicht außerhalb ihrer selbst als eigenes Wesen erlebt wird. Bis ins Jahr 1995, vor der völligen "Computerisierung" der Gesellschaft, ruhte der Erwachsene in sich, verfügte über die Intuition, die es braucht, um mit Kindern richtig umzugehen. Durch gesellschaftliche Veränderungen gab es die Verschiebung hin zum Kind als Partner auf gleicher Ebene. Immer mehr Erwachsene, auch die Großeltern, wollen vom Kind partout geliebt werden. Das bewirkt eine Machtumkehr. Das Kind bleibt quasi über den Erwachsenen stehen.

derStandard.at: Wieso haben Eltern ihre Intuition verloren?

Winterhoff: Eltern haben diese Intuition noch. Die Ursache sehe ich im Wechsel von analog auf digital. Nehmen Sie einmal das Jahr 1990, da ging alles noch analog: Ich mache zuerst das, dann das ... Die Krankenkasse war sicher, der Job, die Pension ebenso. Heute gibt es die permanente Erreichbarkeit, eine hohe Unsicherheit, und dazu dringen auch noch Katastrophennachrichten aus aller Welt in unsere Wohnzimmer. Der Erwachsene von heute steht unter Daueranspannung, befindet sich in einem Katastrophenzustand. Deshalb werden auch die Themen Burnout und Depression immer drängender - und auch berechtigter. In einer Katastrophe ist der Mensch nur noch nach außen gerichtet, will sich etwa vor einem Brand retten, da verfügt er nicht mehr über seine Intuition.

derStandard.at: Um wie viele Menschen geht es? Sind das Sonderfälle?

Winterhoff: Nein, gar nicht. Wir haben hier in Deutschland in den Grundschulen, also Ihren Volksschulen, 70 Prozent auffällige Kinder.

derStandard.at: Was heißt "auffällig"?

Winterhoff: Nehmen wir einmal das Jahr 1995. Damals konnten Kinder in einer Grundschule vier Stunden auf dem Stuhl sitzen. Sie erkannten eine Lehrerin als Lehrerin, führten Aufträge aus, waren lernwillig und wissbegierig. Sie übernahmen die Regeln der Schule sehr schnell als eigene Regeln. Heute ist das anders. 70 Prozent der Kinder sind gar nicht mehr lernwillig. Sie verhalten sich im Unterricht so wie in der Pause, liegen auf und unter dem Tisch oder laufen herum. Sie führen keine Aufträge aus oder nur nach mehrmaliger Aufforderung. Das merken Sie auch später: In Deutschland haben wir 50 Prozent an Schulabgängern, die gar nicht in der Lage sind, arbeiten zu gehen. Denen fehlt die Arbeitshaltung, der Sinn für Pünktlichkeit, sie können auch keine Prioritäten setzen. Kurz: Sie können nicht über das verfügen, was sie in mindestens zehn Schuljahren gelernt haben sollten. Da hat sich etwas eklatant verändert.

derStandard.at: Wieso sollen so junge Schulkinder vier Stunden ruhig auf einem Sessel sitzen können?

Winterhoff: Das wäre einmal die Voraussetzung dafür, dass unterrichtet werden kann. Da geht es jetzt nicht um eine Zwangsleistung. Ein Kind, das emotional und sozial auf dem Entwicklungsstand "Schulreife" steht, sollte so etwas selbstverständlich leisten.

derStandard.at: Und diese Kinder sind einfach nur unreif?

Winterhoff: Ja, diese Kinder stehen auf der Stufe von Kleinkindern. Die Kinder, die zu mir in die Praxis kommen, stehen auf einem Reifegrad von zehn bis sechzehn Monaten. Sie haben die Vorstellung, dass sie alles und jeden steuern und bestimmen können. Sie sind nur lustorientiert, alles dreht sich um sie selbst. Sie sind erzogen, haben aber dennoch kein Unrechtsbewusstsein, keine Empathie. Man hat Kinder seit Jahrzehnten beobachtet und festgestellt, dass Kinder, auch wenn sie aus unterschiedlichen Elternhäusern und Schichten kommen und verschiedene Intelligenzen haben, sich in gewissen Alterslagen immer gleich verhalten. Verläuft die Entwicklung positiv, nimmt der Mensch immer mehr wahr. Aus dieser Wahrnehmung resultiert dann auch das Verhalten. Ist ein Reifegrad "Schule" erreicht, will man lernen und interessiert sich für Kulturtechnik. Und dann sind auch diese vier Stunden Stillsitzen keine Anstrengung.

derStandard.at: Was macht man mit Kindern, die das nicht können?

Winterhoff: Zuerst gilt es einmal anzuhalten und das Problem zu erkennen. In Deutschland wird versucht, es wegzuschieben. In Kindergärten ist alles offen und frei. In Österreich gibt es sogar die Idee, in Kindergärten Cafés einzurichten. Kindergarten und Schule gehören wieder als Orte angesehen, wo sich Kinder entwickeln können. Dazu wäre wichtig, dass Kinder als Kinder angesehen werden. Dass man sie anleitet, dass es Rituale gibt - das gibt Halt und Sicherheit. Nur über eine Anleitung bildet sich überhaupt die Basis in der emotionalen und sozialen Psyche.

derStandard.at: Also führen, statt sie frei spielen, einfach leben zu lassen?

Winterhoff: Ja. Immer mehr Erwachsene befinden sich in diesem Katastrophenzustand, verspüren permanent Stress und Spannung. Das überträgt sich auf die Kinder. Kleine Kinder brauchen Eltern, die in sich ruhen. Anleiten und begleiten ist praktisch verlorengegangen. Man sorgt dafür, dass die Kinder sich möglichst schnell alleine anziehen, dass sie alles alleine machen. Das ist aber nicht Selbstständigkeit, sondern Selbstbestimmung. Ich arbeite den ganzen Tag selbstständig, bin aber ständig fremdbestimmt. Im Augenblick bin ich das durch Sie, sonst durch Patienten oder etwa durch meine Familie. Derzeit ist es aber eben trendy, alles offen zu halten, das Kind macht alles alleine.

derStandard.at: Oder das Kind steckt in einem Förderprogramm.

Winterhoff: Davon halte ich wenig. Der Förderwahn tritt bei Eltern ein, die in einer Symbiose mit ihrem Kind leben. Das Kind ist ein Teil von ihnen, und gleichzeitig sind die Eltern in einer Stimmung, in diesem Katastrophenzustand, der ihnen sagt: Wir müssen alles retten, alles tun, um bestens vorbereitet zu sein. Deshalb wird dieses Kind mit drei Jahren zum Englischkurs geschickt und mit vier zum Chemiekurs. Alles wird getan, um sozusagen auf die Katastrophe vorbereitet zu sein. Es gibt eine bestimmte Gruppe, die nennt man auch Helikopter-Eltern, die immer drüberschweben, damit die Kinder von morgens bis abends gefördert werden.

derStandard.at: Und bewirken eher etwas Negatives?

Winterhoff:  Es gibt junge Leute, die das Abitur gemacht haben. Sie kommen aber nicht mit dem Leben klar. Wenn die Eltern alles steuern und bestimmen können, werden die Kinder später einmal sozial nicht zurechtkommen.

derStandard.at: Es gibt einen fast unüberschaubaren Markt an Erziehungsratgebern. Verunsichern diese Bücher nicht mehr als sie nutzen?

Winterhoff: Die Eltern sind verunsichert, wenn sie diese Symbiose leben. Es taucht ja sofort die Frage auf: Woran liegt es, dass es mir wehtut? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich hole mir Rat bei Freunden, in einem Buch, und letztlich gehe ich zu einem Arzt. Die gleichen Menschen brauchen in vielen anderen Situationen keine Anleitung. Wenn sie angepöbelt werden, fragen sie auch nicht nach, wie sie sich verhalten sollen. Wenn eine Mitarbeiterin eine Arbeit nicht ausführt, wissen sie meist auch, was zu tun ist. Diese Fähigkeiten versagen dann beim eigenen Kind. Deshalb suchen sie Anleitungen.

derStandard.at: Was kommt auf die Gesellschaft zu, wenn es so weiterläuft?

Winterhoff: Ein geringer Teil wird vielleicht kriminell. Die meisten von diesen jungen Erwachsenen werden aber passiv sein. Sie werden nicht einmal einen Arbeitslosenantrag stellen. Die sind auf Versorgung angewiesen. Ich habe kürzlich mit einer Frau gesprochen, die hat für ihren 25-jährigen Sohn Hartz IV beantragt. Diese Menschen werden nicht arbeiten gehen, weil sie es einfach nicht können.

derStandard.at: Was tun?

Winterhoff: Natürlich kann man etwas tun. Bei mir sind das vielleicht fünf Beratungsgespräche im Jahr. Mehr nicht. Zunächst kläre ich die Eltern auf, dass sie sich in einer Beziehungsstörung befinden, und versuche, ihnen zu zeigen, wie man da rauskommt - auch aus dem Katastrophenzustand. Ein Versuch wäre: Lassen Sie sich auf einen längeren Waldspaziergang ein. Ganz alleine. Beim ersten Mal dauert es vier, fünf Stunden, bis sich der Effekt einstellt. Erst dann verliert sich der Druck, die Anspannung. Man ruht wieder in sich. Da gewinnt der Mensch die normale Distanz zum Kind. Und die Intuition stellt sich auch wieder ein. (Peter Mayr, derStandard.at, 3.1.2014)