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In den Favelas von Rio de Janeiro ist der Fußball ein tröstender Herrscher im Alltag.

Foto: Reuters / Pilar Olivares

Das weltweit größte sportliche Ereignis des Jahres wirft sein Licht auf die größten Probleme des Landes.

Fußball ist seine Leidenschaft. Die WM nach Brasilien zu holen war sein Herzenswunsch. Als Präsident Luiz Inácio "Lula" da Silva im Oktober 2007 vom Weltverband (Fifa) den Zuschlag bekam, strahlte er über das ganze Gesicht. "Diese WM wird Geschichte schreiben", versprach Lula. Der Erfolg hatte viele Väter: An seiner Seite feierten Buchautor Paulo Coelho, Ex-Teamstürmer Romário und der Präsident der Confederação Brasileira de Futebol, Ricardo Teixeira. Brasilien war im Aufwind, die Konjunktur boomte, Lulas Sozialprogramme waren erfolgreich.

Sechs Jahre später herrscht Katerstimmung, Lula und seine Mitstreiter strahlen nicht mehr. Romário bezeichnet die WM als "organisierten Diebstahl", Teixeira musste wegen Vetternwirtschaft den Hut nehmen, Lulas einstige Führungsriege sitzt wegen Korruption im Gefängnis.

Die brasilianische Großwetterlage ist umgeschlagen, die WM ist mittlerweile eher Bürde denn Nationalstolz. Diejenigen, die vorher schon unkten, die Veranstaltung werde eine einzige Abkassiererei, sehen sich bestätigt. Die Fifa und die Gastgeber liegen im Dauerclinch. Brasilien brauche einen Tritt in den Hintern, verkündete Fifa-General Jérôme Valcke und löste einen Sturm der Entrüstung aus. Seither wird jedes Detail zum Politikum, und das Diktat der Fifa wird in den Medien ausführlich breitgetreten. Der Verkauf lokaler Spezialitäten in WM-Zonen? Nichts da, schließlich hat die Fifa Millionenverträge mit Fast-Food- und Softdrinksponsoren. Die vom Volk geliebten Stehplätze im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro? Müssen weg. Sogar ein historisches Indígena-Museum nahe des Maracanã wurde für Parkplätze niedergewalzt.

Lulas Last

Doch auch die Brasilianer sind nicht ganz unschuldig daran, dass die Vorbereitungen dem Zeitplan hinterherhinken. Auf zwölf Austragungsorten hatte Lula großspurig bestanden – acht hätten es aus der Sicht der Fifa auch getan. Nun steht der Austragungskalender, auch wenn es in Cuiabá nicht genügend Hotelzimmer gibt und in Salvador ein Teil des Stadiondachs einbrach, weil der Regen zu schwer für die Membranplatten war. In der Amazonasmetropole Manaus, die keinen Erstligaklub hat, wird das Stadion wegen der tropischen Regenfälle und des extravaganten, technisch schwierigen Designs kaum bis zum Stichtag fertig. Die Modernisierungen der Flughäfen von Rio und São Paulo werden laut der Tageszeitung O Globo ohnehin erst nach der WM abgeschlossen.

Hinter alldem stecken Ineffizienz und Inkompetenz, aber auch Korruption. In Cuiabá musste die Ausschreibung für die Stadionsitze wegen überhöhter Preise wiederholt werden. In São Paulo ging dem Bau der beschädigten Arena Corinthians ein langer Rechtsstreit zwischen dem Klub und der Baufirma Odebrecht vorher. Odebrecht ist ein skandalumwitterter Großkonzern, ein wichtiger Finanzier von Lula und dessen Nachfolgerin Dilma Rousseff. Odebrecht baute auch in Rio das Maracanã-Stadion um – bereits zum zweiten Mal. Beide Male wurde der Umbau wegen "technischer Probleme"  deutlich teurer.

Auch in Brasilien sind staatliche Großaufträge ein Fass ohne Boden. Diesmal werden die Stadien wohl umgerechnet 2,5 Milliarden Euro kosten – fast dreimal so viel wie veranschlagt und mehr als bei den jüngsten beiden WM-Endrunden zusammen. Insgesamt dürfte der Event den Steuerzahler zehn Milliarden Euro kosten.

Laute Fragen

Das schien den Brasilianern dann doch zu viel. Im heißen Juni des Vorjahres gingen mehr als eine Million Menschen auf die Straße und überraschten ihre Regierung und die Welt. Wer hätte schon damit gerechnet, dass ausgerechnet im fußballbegeisterten Brasilien die Bevölkerung von ihrer Regierung lautstark fordert, statt Stadien Krankenhäuser und Schulen zu bauen? Und dass ein Schwellenland die Methoden der Fifa hinterfragt?

"Mit alldem Geld hätte man sinnvollere Dinge tun können, als Vorzeigestadien zu bauen, die nach der WM niemandem nützen. Deshalb sind die Menschen wütend" , begründeten Demonstranten ihren Protest. Rousseff reagierte und versprach Investitionen in Bildung, Gesundheit und Verkehr. Mäßigend wirkte die Sele­ção, die mit den Protesten sympathisierte, vor allem aber die WM-Generalprobe, den Confedera­tions-Cup, gegen Champion Spanien mit 3:0 gewann.

Wo die Mittel zur Finanzierung von Rousseffs Versprechungen herkommen sollen, ist schleierhaft. Die Konjunktur schwächelt, der erhoffte Aufstieg zur Erdölmacht lässt auf sich warten, weil offshore längst noch nicht so viel wie erhofft gefördert wird.

Latente Angst

Deshalb steckte hinter den Protesten auch die Angst der neuen Mittelschicht, ihr Aufstieg sei nur eine Blase gewesen und könnte platzen wie das Imperium von Eike Batista. Der Milliardär und Inhaber von Baufirmen, Gold­minen und Logistikunternehmen hatte sich mit seiner Investition in die Offshore-Ölfelder übernommen. Auf seinen Baustellen stehen die Kräne still. Zu allem Überdruss drohte auch noch Brasiliens größtes Verbrechersyndikat, das PCC, die WM mit Blut zu überziehen, wenn inhaftierte Gangsterbosse verlegt und in Einzelhaft gesteckt würden.

Aber Krisenszenarien sind nichts Neues bei Fußball-Weltmeisterschaften. Und es gibt auch unverbesserliche Optimisten wie den Journalisten Michel Castelar der Sportzeitung Lance. "Brasilien wird das tollste Fußballfest feiern, das es je gegeben hat." "Jeito", nennt man diese Fähigkeit, in letzter Minute mit Improvisations­talent zu reüssieren. Immerhin wurde schon fast eine Million Eintrittskarten verkauft. "Unsere Copa wird besser als die WM in Deutschland", sagt Castelar. (Sandra Weiss /DER STANDARD, 3.1.2014)