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Der britische Boulevard warnte schrill vor einer Welle von Armutsflüchtlingen, die bisher nicht eintraf. 

Foto: AP/Grant

In der britischen Einwanderungsdebatte warnen die Repräsentanten der Wirtschaft vor allzu schrillen Tönen aus der Politik. Die einheimische Bevölkerung sei für die Anforderungen der modernen Volkswirtschaft nicht ausreichend ausgebildet, glaubt der Geschäftsführer des Industrieverbandes CBI. "Die Unternehmen hätten Schwierigkeiten, ohne die Vorteile des offenen EU-Arbeitsmarkts die richtigen Leuten zu finden" , sagte John Cridland in London. Weitere Beschränkungen hätten negative Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit der Insel.

Wahlkampfthema

Wochenlang hatten rechte Boulevardzeitungen sowie die Nationalpopulisten der Ukip (United Kingdom Independence Party) für den Jänner eine Welle von Armutsflüchtlingen aus Rumänien und Bulgarien vorhergesagt. Davon kann bisher zwar keine Rede sein; dennoch scheinen Medien und Politik dazu entschlossen, im Vorfeld der Europawahl das Thema Immigration hervorzuheben. Einer am Dienstagabend ausgestrahlten Analyse der öffentlich-rechtlichen BBC zufolge spiegeln sie damit weite Teile der Bevölkerung wider: 77 Prozent wollten in einer Umfrage des NatCen-Instituts die jährliche Nettoeinwanderung von zuletzt 180.000 Menschen reduzieren, 56 Prozent sprachen sich für eine "deutlich niedrigere Zahl"  aus. Selbst aus der Minderheit, die Zuwanderung als wichtig für den Wohlstand des Landes ansieht, wünschte sich die Hälfte der Befragten eine Verringerung.

Doch wie kann das gelingen? Konservative Politiker sowie Ukip-Chef Nigel Farage überbieten sich mit Vorschlägen zur Abschreckung sogenannter "Sozialtouristen" , also von Bürgern anderer EU-Staaten, die auf der Insel Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Kurz vor Weihnachten hatte die konservativ-liberale Koalition dies für die ersten drei Monate des Aufenthalts in Großbritannien ausgeschlossen. Londons Bürgermeister Boris Johnson will Neuankömmlingen zwei Jahre lang die kostenlose Krankenversorgung sowie jede Sozialleistung verweigern, Ukip-Chef Farage plant, Großbritannien fünf Jahre lang von jeder (legalen) Neu-Einwanderung abzuschotten – nach dem Austritt aus der EU, versteht sich. Die derzeit auf der Insel lebenden rund zwei Millionen Bürger anderer EU-Staaten müssten sich um ihr Aufenthaltsrecht bewerben. Premier Cameron hat für 2017 eine Volksabstimmung über den EU-Verbleib versprochen und will die Union bis dahin reformieren. Zu den Ideen der Downing Street zählt auch die Abschaffung des Kindergeldes für britische Wohnbürger, deren Kinder im Ausland leben. Dies betrifft beispielsweise 2600 Kinder in Irland, vor allem aber 26.500 in Polen.

Mit dem Vorstoß hat der Oxford-Absolvent seinen konservativen Gesinnungsgenossen und Studienkollegen, den polnischen Außenminister Radosław Sikorski vergrätzt. "Warum sollten polnische Steuerzahler die Kinder britischer Steuerzahler subventionieren?", fragt Sikorski rhetorisch. Die Intervention des anglophilen Außenministers sorgt in der Regierung für Unruhe, schließlich gilt Polen bei den Briten als einer der wichtigsten Verbündeten für die angestrebte EU-Reform.  (Sebastian Borger aus London/DER STANDARD, 9.1.2014)