"Hundert Prozent Wirkung darf man sich von keiner Impfung erwarten."

Foto: Prof. Mutz

Ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl des Kinderarztes: Wie steht der Mediziner zum Thema Impfen? Anlässlich des Österreichischen Impftages vergangenen Samstag hat der Impfbefürworter Ingomar Mutz Stellung genommen. Er hat in seiner 40-jährigen Karriere als Kinderarzt das Verschwinden vieler gefährlichen Infektionskrankheiten erlebt, weil dagegen Impfstoffe entwickelt wurden.

derStandard.at: Impfen ist ein kontroverses Thema in den derStandard.at-Foren. Wieso ist das Thema so emotional besetzt?

Mutz: Weil bei der Impfung einem Gesunden ein Medikament verabreicht wird. Das ist immer etwas Anderes als wenn man einem Kranken ein Medikament verabreicht. Einem Gesunden kann ich nicht versprechen dass es ihm am nächsten Tag besser geht, sondern ich muss sagen, dass er ein, zwei Tage die Immunreaktion auf diese Impfung verspüren wird.

derStandard.at: "Impfen schützt vor Krankheiten." – "Ungeimpfte Kinder sind gesünder." Beide Aussagen werden von den Usern wie auch von Wissenschaftlern vehement vertreten. Wem soll man glauben?

Mutz: Ich bin seit mehr als 40 Jahren Kinderarzt und ich habe Zeiten erlebt, in denen es viele Impfungen noch gar nicht gegeben hat. Da gab es in Graz eine Kinderinfektionsabteilung mit Stationen für die einzelnen Krankheiten, die es heute nicht mehr gibt. Die Abteilung gibt es nicht mehr und die Krankheiten gibt es nicht mehr dank der Impfungen. Zu behaupten, dass die Zeit ohne Impfungen besser war, ist absurd. Die Steigerung der Lebenserwartung in den letzten 150 Jahren ist auf drei Dinge zurückzuführen: sauberes Wasser, ausreichende Ernährung und Impfungen.

derStandard.at: Wie riskant ist Impfen tatsächlich? Können Krankheiten bzw. Spätfolgen als Nebenwirkungen auftreten?

Mutz: Bei Impfungen gibt es üblicherweise Nebenwirkungen an der Injektionsstelle. Meist geht es einem ein, zwei Tage nicht ganz so gut. Es gibt auch Impfschäden, welche aber dramatisch zurückgegangen sind, weil die Impfungen verbessert worden sind. Bei Langzeitschäden, die man früher den Impfungen, vor allem dem Keuchhusten angelastet hat, hat man inzwischen weitgehend abgeklärt, dass das oft angeborene Stoffwechselerkrankungen sind, die sich in diesem Alter manifestieren. Viele Krankheiten tauchen erst im ersten Lebensjahr auf. Dass Autismus ein Impfschaden ist, geistert heute noch immer durch die Literatur. Diese berühmte Publikation ist aber wegen Betrugs zurückgezogen worden. Auch Fibromyalgie wird immer wieder als Impfschaden genannt. Ich habe die Impfschadenverfahren der letzten Jahre verfolgt und kenne keinen Fall davon in Österreich.

Man muss aber natürlich mit Nebenwirkungen rechnen. Dass das Kind Fieber bekommen kann, muss ich sogar dazusagen. Es gibt einen Fieberkrampf als Folge der Impfung, der aber meist, oder praktisch nie, Spätfolgen hinterlässt. Nachdem diese Fieberkrämpfe drei Prozent aller Kinder auch ohne Impfen bekommen  - das sind über 2000 Fälle pro Jahr in Österreich -  ist das nur eine ganz geringe Zahl. Es gab aber im Jahr 2000 nach dem Impfstoff TicoVac gegen FSME zu den 2000 Fällen pro Jahr 60 zusätzliche Fieberkrämpfe. Also ich kann nicht sagen, dass gar nichts sein kann.

derStandard.at: Das Immunsystem von Säuglingen ist nicht fertig ausgebildet. Wie sinnvoll oder gefährlich ist es, in diesem Alter zu impfen?

Mutz: Das Immunsystem ist bei Säuglingen nicht ganz perfekt, weil es noch reifen muss. Aber Tatsache ist, dass die Impfungen ja an diesem Immunsystem untersucht und getestet worden sind. Die Furcht, dass man mit zu vielen Antigenen belastet wird, ist absurd, weil das Neugeborene vom ersten Tag an mit tausenden Antigenen belastet wird. Unser Immunsystem ist dafür ausgerüstet, dass es mehrere Tausend Antigene pro Tag verarbeiten kann.

derStandard.at: Wie verträglich sind moderne Impfstoffe?

Mutz: Die neuen Impfstoffe haben enorme Testserien durchzumachen. Denken Sie an das Rotavirus, wo ein Impfstoff an 60.000 Probanden getestet wird. Das ist ja auch der Grund, warum Impfungen immer teurer werden. Die Forschung ist heute weiter, die Tests sind umfangreicher, die Bestandteile sind gereinigter, und daher weiß man was man tut. Der alte Keuchhustenimpfstoff war ja eine Bakteriensuspension, die 3000 Antigene enthalten hat. Heute hat er dramatisch weniger Nebenwirkungen, aber wirkt auch ein bisschen weniger. Hundert Prozent Wirkung darf man sich von keiner Impfung erwarten.

derStandard.at: Die Durchimpfungsraten sind in Österreicher allgemein rückläufig. Herr und Frau Österreicher gelten als impfskeptisch. Woran liegt das?

Mutz: Die Österreicher sind nicht impfkritischer als andere europäische Länder. Dass die Durchimpfungsraten in den letzten Jahren nicht ausreichend waren, liegt an der Problematik der Schulimpfungen. Da ist man organisatorisch zurückgefallen nach diesem einen Fall in Kärnten mit der Optikusneuritis, der als Impffolge deklariert wurde, in Wirklichkeit aber nach sechs Monaten ausgeheilt ist. Da haben die Schulärzte panische Angst vor rechtlichen Folgen bekommen, obwohl damals wegen mangelnder Aufklärung das Land Kärnten zu einer Strafe verurteilt worden ist. Eine vollständige Aufklärung ist technisch gar nicht durchführbar. Es gibt zum Beispiel Aufklärungsbüchlein in Australien und Kanada, die zwischen 250 und 350 Seiten haben, damit auf alle Fragen eingegangen werden kann. Aber wer liest das?

Natürlich gibt es auch Impfskepsis bei den Ärzten, und das ist das Problem. Die Eltern machen das, was die Ärzte ihnen raten. Kein Arzt gibt Kindern gerne eine Spritze. Wenn er dann noch lange Aufklärungsgespräche führen muss und die Eltern dann nachhause gehen, um es sich noch einmal zu überlegen, dann hat er Zeit unbezahlt eingesetzt. Wenn der Arzt sich nicht selber gegen Influenza impfen lässt, dann hat er auch keine Chance seine Patienten zu überzeugen.

derStandard.at: Was halten Sie von einer Impfpflicht bestimmter Impfungen in Österreich? Oder sollte man die Impfentscheidung den Eltern überlassen?

Mutz: Ich sehe die Möglichkeit einer Impfpflicht nur dann, wenn zum Beispiel eine Pandemie mit einem sehr tödlichen Virus kommt. Sonst ist das bei uns momentan nicht umsetzbar und daher erübrigt sich die Debatte. Wir reden immer vom mündigen Bürger, daher finde ich, dass es ein guter Ansatz ist, wenn man die Leute aufklärt. Es ist auch wichtig, dass die öffentlichen Stellen klar Stellung beziehen. Aber das machen sie bei uns ohnehin, indem sie Impfempfehlungen veröffentlichen.

derStandard.at: Die Zahl der empfohlenen Impfungen steigt – macht jede davon Sinn? Zu welchen würden Sie Ihren Patienten raten?

Mutz: Das hängt davon ab, was jemand vorhat und welche Voraussetzungen er hat. Es gibt wenige Impfungen bei denen ich sage: "Wieso solltest du dich vor dieser Krankheit schützen?" Aber wenn jemand keine Reise in ein Gelbfiebergebiet macht, muss er sich nicht gegen Gelbfieber schützen. Die Tollwut ist in Österreich nicht mehr existent, wer also als Normalbürger in Österreich lebt, braucht auch keine Tollwutimpfung.

derStandard.at: Experten warnen immer wieder vor einem Comeback von Masern und Keuchhusten, weil immer weniger Kinder dagegen geimpft sind. Wie realistisch schätzen Sie diese Gefahr ein?

Mutz: Beim Keuchhusten ist das Problem, dass er bei den Erwachsenen oft nicht diagnostiziert wird, der Impfschutz maximal 85 Prozent beträgt und er auch nicht so lang anhält. Wenn die Auffrischungsimpfungen im Erwachsenenalter vernachlässigt werden, dann bleibt der Keuchhusten bei uns. In allen entwickelten Ländern ist Keuchhusten in den letzten Jahren angestiegen. Kinder sind ziemlich gut geschützt, aber die Erwachsenen weniger. Die Masern sind eine Impfskepsis-Problematik. In den USA sind sie nahezu verschwunden, aber in Europa gibt es Tausende von Fällen. Es gibt ja Leute, die sagen, die Masern muss man durchmachen für eine gesunde Entwicklung. Bitte, wer hätte gern, dass sein Kind krank wird?

derStandard.at: Was halten sie von aktuell von der HPV-Impfung, die den Kindern in Österreich ab Februar in der vierten Schulstufe kostenfrei zur Verfügung steht?

Mutz: Ich bin sehr froh, dass das gemacht wird, auch wenn man die krebsverhütenden Auswirkungen erst in 20 Jahren sehen wird. Ich habe Töchter und Enkeltöchter und natürlich habe ich sie geimpft, weil ich nicht will, dass sie Gebärmutterhalskrebs bekommen. Wenn ich 70 bis 80 Prozent dieses Risikos wegnehmen kann, dann tu ich das natürlich.

derStandard.at: Als wie wirksam schätzen Sie die Grippeimpfung ein?

Mutz: Das Problem mit der Grippeimpfung ist, dass sie so schlecht wirkt. Die Erstimpfung bei Kindern hat 30 Prozent Effektivität, die Erstimpfung bei Senioren hat 40 bis 60 Prozent Effektivität, und auch sonst kommt man über 90 Prozent nie hinaus. Aber die Wahrscheinlichkeit, trotzem die Grippe zu bekommen, ist deutlich geringer. Ich impfe mich jedes Jahr gegen die Grippe, weil ich 1957 die asiatische Grippe hatte und weiß, wie das ist.

derStandard.at: Gibt es ein Zuviel an Impfungen für den menschlichen Organismus?

Mutz: Ja. Bekannt ist das von Diphterie und Tetanus. Bei Tetanus ist das Problem, dass man bei jeder Verletzung in der chirurgischen Ambulanz die Impfung bekommt, weil man den Impfpass nicht mithat und sich nicht erinnern kann. Aber wenn Sie das zwanzig Mal durchghemacht haben, dann kann das schon einmal zu viel sein. Die Lokalreaktionen können dann sehr stark und lang anhaltend sein.

derStandard.at: Gibt es effektive Alternativen zu Impfungen?

Mutz: Eigentlich nicht.

derStandard.at: Impfen mit Maß und Ziel – ist das der Kompromiss zwischen Impfkritikern und Impfbefürwortern?

Mutz: Wenn jemand ein echter Impfgegner ist, kann man ihn durch nichts überzeugen. Wenn Sie die Zeugen Jehovas umschulen wollen, gelingt das auch nicht. Das ist ihr fixer Glaube. Dafür verschwende ich auch keine Zeit. Wenn Sie Ihr Kind partout nicht impfen lassen wollen, dann kann ich nichts machen. Aber es gibt viele informationsbedürftige Leute, und mit denen muss man reden.