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"Uyoku" ist der Überbegriff für jene extrem Rechten in Japan, die mit ihren Lautsprecherwagen beispielsweise allen, die Ohren haben, erläutern, warum die koreanische Minderheit unerwünscht ist.

Foto: Reuters/Aizawa

Vor einigen Wochen schrieb Anna Kim in einer ALBUM-Titelgeschichte über ihre vermeintliche Heimat "Südkorea". Eine weitere Etappe der Reise führte die Autorin nach Japan zur dortigen koreanischen Minderheit.

Die weißen und schwarzen Kleinbusse fallen vor allem auf, weil die japanische Fahne an mindestens einer Seitentür befestigt ist; sie flattert im Wind, während uns einer der Wagen überholt und der Fahrer in sein Megafon spricht, im Hintergrund ist blechern die japanische Nationalhymne zu hören. "Hate speech" , klärt mich meine Reisebegleiterin Yuri auf. Vielleicht sei er auf dem Weg zu einer koreanischen Schule in Kioto, sagt sie, um vor dem Gebäude zu parken und allen, die Ohren haben, zu erläutern, weshalb die koreanische Minderheit in Japan unerwünscht sei und schleunigst das Land verlassen sollte.

"Uyoku" ist der Überbegriff für die extremen Rechten in Japan, ich habe von ihnen und den "gaisenshas" , den Lautsprecherwagen, gelesen, aber ich hätte nicht gedacht, dass ich so bald einem begegnen würde: Ich bin erst seit zwei Stunden in Osaka, wir fahren über die Brücke auf das Sky Building in Umeda zu, einen Wolkenkratzer in der Form eines Ma­gneten, es glitzert silbrig in der Sonne, Wolken, und die Häuser der Umgebung spiegeln sich in der Fassade, die Reflexionen schwimmen in der Hitze – es hat 31 Grad, und es ist furchtbar schwül, die Wettermenschen im Fernsehen sprechen ununterbrochen vom nahenden Taifun.

Yuri und ich sind unterwegs nach Kobe. Wir sprechen mitein­ander Koreanisch, denn sie, eine koreanischstämmige Japanerin ist in eine koreanische Schule gegangen. Ich sage, in eine südkoreanische Schule ("hankuk hakkyo"), sie bessert mich aus, sie nenne sie "uri hakkyo", unsere Schule. Ich wundere mich leise, laut frage ich: "Sie sind in die Schule gegangen, in die wir unterwegs sind?" Sie nickt, und der Direktor, sagt sie, sei ein ehemaliger Klassenkollege, aus ihm sei etwas geworden, aus ihr nicht. Sie lacht schallend und biegt ab, ohne zu blinken.

Yuri hat das Nudel-(Udon-)Restaurant ihrer Eltern übernommen, seit diese zu krank sind, um sich um das Geschäft zu kümmern, ihre Mutter hat Alzheimer im Anfangsstadium. Yuri wollte ursprünglich Bilder malen, von früh bis spät, sagt sie und lächelt, während sie dicht vor einem Lkw die Spur wechselt und von diesem angehupt wird. Sie ist die Älteste von insgesamt fünf Geschwistern, die jüngste Schwester ist Mitte dreißig, eine Tänzerin, die nach Los Angeles ging, aber nach Japan zurückkam, weil sie, so Yuri, einfach nicht gut genug sei. Von den anderen zwei Schwestern und dem Bruder erfahre ich nichts, nur dass sie wie sie in die koreanische Schule gegangen sind.

Ihr Vater habe Koreanisch gelernt, erzählt sie, als sie in der Volksschule das koreanische Alphabet durchgenommen habe, er sei neben ihr gesessen und habe mit ihr das Schreiben geübt, nun lese er sogar die koreanische Zeitung. Ihre Mutter sei wie sie in die koreanische Schule gegangen, aber sie habe die Sprache inzwischen vollkommen verlernt, zu Hause werde nur Japanisch gesprochen. Wir biegen ab, weg von der vierspurigen Straße in ein Gassengewirr und fahren prompt gegen die Einbahn, macht nichts, meint Yuri und fährt einfach im Rückwärtsgang weiter, die Schule sei gleich um die Ecke.

Ein großer sandiger Sportplatz mit zwei Toren liegt vor dem gelben Schulhaus, die Bodenmarkierung wehrt sich erfolglos gegen die Zeit, und auch das dreistöckige Gebäude ist lädiert, die Farbe an den Wänden ist fast vollkommen abgeblättert, die Stufen sind durchgetreten. Obwohl Unterricht ist, wirkt es verlassen; durch das Treppenhaus zieht es, es fühlt sich an, als gingen wir im Freien. Wir kommen an den zwei Waschräumen vorbei, sie sind farbkodiert, Rot für die Mädchen, Blau für die Buben, vor jeder Tür aber stehen grüne Gummistiefel. "Warum?" , frage ich. "Für die Schüler, sie brauchen sie zum Putzen" , sagt Yuri.

Später erfahre ich, dass es kein Putzpersonal gibt, die wenigen Lehrer der Schule erhalten nur ein kleines Gehalt, der Direktor selbst musste schon auf ein paar Monats­gehälter verzichten. "Es wurde nicht ausbezahlt?" , frage ich ihn und wundere mich wenig, als er dies bestätigt. Die Erklärung dafür hängt im Rektorat an der Wand, direkt über mir: Ein Porträt von Kim Il-sung und eines von Kim Jong-il, zwei kleine, dezent golden gerahmte Fotografien – ich befinde mich in einer nordkoreanischen Schule.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrten viele der fast zweieinhalb Millionen Koreaner, die es entweder freiwillig (infolge wirtschaftlicher Gründe) oder als Zwangsarbeiter nach Japan verschlagen hatte, nach Korea zurück. 1946 befanden sich noch etwa 650.000 im Land, ihnen wurde, nachdem man ihnen bereits das Wahlrecht genommen hatte, ein Jahr später auch die japanische Staatsbürgerschaft entzogen. Nach dem Ende des Koreakriegs (1953) wurden aus ihnen Staatenlose, da Japan weder Nord- noch Südkorea als souveräne Staaten anerkannte, erst mehr als zehn Jahre später konnten jene, die es wünschten, einen südkoreanischen Pass beantragen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die koreanischstämmigen Japaner aber bereits in zwei Lager gespalten: Einige hatten sich auf die prosüd­koreanische Seite geschlagen und den Verband Mindan gegründet, die Mehrheit aber war Mitglied bei Chongryun, der pronordkoreanischen Seite.

Einige von ihnen haben inzwischen einen nordkoreanischen Pass, aber nicht alle – viele beantragten wie Yuri und ihre Familie den südkoreanischen Ausweis, sind aber mehr in die Chongryun-Verbandstätigkeit involviert; die Staatsbürgerschaft ist für Chongryun nicht ausschlaggebend, da sein erklärtes Ziel die Rückkehr aller japanischen Koreaner in ein wiedervereinigtes Korea ist, dafür gründete er in den Jahren nach dem Koreakrieg Volksschulen, Gymnasien und Universitäten.

Diese Bau- und Lehrtätigkeit wurde vom nordkoreanischen Staat finanziert, oder, wie Direktor Kim sagt, zuerst von Kim Il-sung und danach von Kim Jong-il, daher auch die Bilder. Früher seien sie in jedem Klassenzimmer gehangen, verteidigt er sich, heute finde man sie nur noch im Rektorat, außerdem sei dies eine übliche Praxis, in jeder Schule würden die Bilder der Präsidenten an die Wände gehängt, sagt er. "Und wo" , frage ich, "ist der Dritte im Bunde?"  Er sieht mich erstaunt an. Es fehlt doch einer, sage ich, wo ist Kim Jong-un? Der Direktor grinst, von Kim zu Kim. Das hat keine Eile, sagt er, schauen wir mal. Dann sagt er, und seine Stimme wird wieder ernst, es gehe dar­um, dass die Kinder die Sprache und Kultur Koreas kennenlernen und nicht um Ideologie, es gehe um eine Zukunft ohne Barrieren, und dies beginne mit der Erziehung. Er führt uns durch das Haus, Yuri und ich schauen in die Klassenräume, plaudern mit den Schülerinnen und Schülern. Ich werde als eine Deutsche vorgestellt, ein Schüler ruft daraufhin "Schweinsteiger!"  und dackelt in der Pause hinter uns her; wann immer ich mich umdrehe, lacht er und winkt. An den Wänden im Flur hängen Fotos vom Klassenausflug nach Pjöngjang und in die nordkoreanischen Berge, dazwischen sind kleine nordkoreanische Flaggen aufgemalt; aber es hängen auch Zeichnungen vom Unterricht, die Masken, die die Kinder zum Trocknen auf den Boden gelegt haben, werden diese ablösen, wohl aber nicht die Fahnen.

Das Gebäude sei 1967 erbaut worden, seither sei es nicht ein einziges Mal verändert worden, das einzig Neue sei das Feuerlöschsystem, das erst vor kurzem installiert worden sei, die japanische Verwaltung habe mit der Schließung der Schule gedroht, eigentlich konnten sie es sich nicht leisten, auch aus Japan würden sie keine finanzielle Unterstützung erhalten.

Aber wenn es nicht um Ideologie gehe, frage ich, warum dann nicht die zwei Porträts im Büro verbannen und von Südkorea und Japan finanzielle Unterstützung erhalten? Herr Kim sieht mich an und antwortet zunächst nicht. Dann schüttelt er energisch den Kopf, das gehe auf keinen Fall, sagt er, dann müssten sie ja den ganzen Studienplan ändern. Ehe ich antworten kann, ruft der Kleine, unterstützt von seinen Kommilitonen – es ist eine kleine Gruppe, die immer kleiner wird, jährlich werden es weniger und weniger, sie alle wandern ab, in die japanischen und südkoreanischen Schulen – auf dem sandigen Fußballfeld, in dem die Tore schief in der Erde stecken, "Schweinsteiger!".

Und winkt. (DER STANDARD, Album, 11.1.2014)