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Der Glaube an ein unbegrenztes Wachstum war eine Blase

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Ganz langsam verschärfen sich die Arbeitskämpfe in Europa. Dem Selbstbild der vornehmlich gewerkschaftlichen Protagonisten zufolge globalisiert sich zwar die Weltwirtschaft im Zeichen des Neoliberalismus, doch einige mutige gallische Dörfer und die sie umgebenden Randstaaten leisten dem energisch Widerstand.

Doch die Eule der Minerva fliegt bekanntlich erst in der Dämmerung, und wenn eine Gesellschaft sich selbst verstehen will, dann tut sie gut da^ran, sich ohne Rechthaberei ihrer vergangenen Irrtümer zu vergewissern. Aus heutiger Sicht liest sich ein Apriori der Verhaltensökonomie der letzten Jahrzehnte als illusionär: der Glaube an ein unbegrenztes Wachstum und an eine ständige Zunahme der dem Staat und den privaten Haushalten zur Verfügung stehenden Ressourcen.

Plage des wirtschaftlichen Krisenzyklus besiegt

Das Basistheorem der kollektiven Mentalität der Wirtschaftssubjekte blieb selbst bei den Kritikern der Konsumgesellschaft unhinterfragt: dass es der Moderne mit einem wirtschaftspolitischen Instrumentarium gelungen ist, der schon dem biblischen Joseph vertrauten Plage des wirtschaftlichen Krisenzyklus endgültig Herr zu werden. Dass der große Inspirator dieses Instrumentarismus der britische Ökonom John Maynard Keynes mit seiner Theorie des "deficit spending" als Mittel des Ankurbelns der Wirtschaft dabei nur selektiv rezipiert wurde, spielte für die wirtschaftspolitischen Prota^gonisten jener Jahrzehnte kaum eine Rolle.

Aus heutiger Sicht sieht die Bilanz einer Wirtschaftspolitik, die sich jahrzehntelang hinter dem Wort vom "deficit spending" versteckt hat, recht schlecht aus: Die Staatsschulden haben sich vervielfacht, Zinsendienst und Tilgung blockieren die Budgets, doch der wachstumsmäßige Effekt dieser Verschuldung ist aus heutiger Sicht fraglich, und das Geld scheint eher in die Befriedigung eines ständig wachsenden Anspruchsniveaus der Bevölkerung der Schulden machenden Staaten geflossen zu sein.

Kollektive Verschwendung

Die IT-Blase und die mit ihr verbundene Kultur einer kollektiven Verschwendung waren wohl die letzten Stützen der Illusion von der Legitimität eines ständig anwachsenden Anspruchsniveaus. Allmählich ist die Bevölkerung unter großen, immer noch laufenden Widerständen mit einer unbequemen Erkenntnis konfrontiert: dass das Wohlergehen der Ökonomie für den Einzelnen schicksalshaften Charakter hat. Seither senden die Medien und die politische Elite schlagworthaft verdichtete, in sich oft widersprüchliche Botschaften an die Wähler und die Konsumenten:

Sparpaket, Erosion der öffentlichen Finanzen durch wachsende Zinsenbelastungen und sinkendes Steueraufkommen, daraus resultierende Finanzierungsprobleme des Renten- und Gesundheitssystems, Einstellung von Subventionen, chronische Arbeitslosigkeit, Kürzung von Arbeitslosenunterstützungen und Sozialhilfen, sinkende Verweildauer am Arbeitsplatz, strukturelle Probleme einer alternden Bevölkerung, die Exportprobleme, die mit der Euro-Hausse verbunden sind, die sich ständig vergrößernde Lücke zwischen den potenziellen Wachstum und dem realen, also der Grad der Nichtausnützung von Kapazitäten, Stagnation im dritten Jahr, Rezession etc., etc. Diskussionsbeiträge, die noch vor einigen Jahren belächelt worden wären – etwa Erich Streisslers Feststellung, dass wir eigentlich bis zum 80. Lebensjahr arbeiten müssten – schaffen es heute in die Headlines der Qualitätspresse, und das zeigt, wie stark verbreitet pessimistische Beurteilungen der wirtschaftlichen Zukunft bereits sind. Selbst Ralf Dahrendorf geht davon aus, dass die "Wissensgesellschaft sich als eine Gesellschaft des bewussten Ausschlusses vieler aus der modernen Arbeitswelt" erweise.

Wissen zur Verhinderung von Abstieg

Dieser Satz zerstört viele Erwartungen, die ehedem mit dem Erwerb von Qualifikationen verbunden waren: Wissen ist nur mehr die Voraussetzung, sich überhaupt am Arbeitsmarkt platzieren zu können; was früher ein garantiertes Vehikel des sozialen Aufstiegs war, wurde zu einem zur Verhinderung von Abstieg degradiert.

Peter Glotz weist auf die Konsequenzen von Dahrendorfs Prognose hin, sein Artikel ist ein Anzeichen für das geänderte Problembewusstsein nicht nur der deutschen Sozialdemokratie: "Wir werden auf Dauer mit einer neuartig zusammengesetzten Unterklasse leben müssen, die wissensintensive Jobs entweder nicht bekommt oder, wegen der stark verdichteten Arbeit, nicht will."

Diese massenmedial verbreiteten Botschaften von der ungebrochenen Existenz des Krisenzyklus und das damit verbundene Wissen, dass Ökonomie Schicksal ist, werden gehört, sie machen Angst und haben ein narzisstisch kränkendes Potenzial. Vielleicht wäre es klug, die laufenden Arbeitskämpfe unter diesem Aspekt zu sehen: als panische Reaktion der europäischen Gewerkschaften auf die Einsicht, dass die guten Jahre – sagen wir einmal – unterbrochen sind. (Alfred Pfabigan, Der Standard, Printausgabe, 14.08.2003)