Undine Zimmer über die Darstellung von Armen in Deutschland: "Wenn man sich an den Vorurteilen orientiert, hat man das Gefühl, selbst auf der sicheren Seite zu sein."

Foto: Fischer Verlag/Andreas Labes
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In ihrem 2013 veröffentlichten Buch "Nicht von schlechten Eltern" erzählt Undine Zimmer von ihrer Kindheit in einer Hartz-IV-Familie. Mittlerweile arbeitet sie selbst in einem Jobcenter. Ein Gespräch über das sogenannte Unterschichtenfernsehen, gutgemeinte Pauschalisierungen und das Unwort des Jahres, "Sozialtourismus".

dieStandard.at: Sie haben ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert, im "Zeit"-Magazin eine Titelgeschichte und ein Buch veröffentlicht. Wieso arbeiten Sie nun als Beraterin für Arbeitslose?

Zimmer: Die Jahre mit den kleinen Gehältern als freie Journalistin waren hart und enttäuschend. Man hat ja nie nur das eigene Minus, man trägt auch das der Eltern mit. Mir war klar: dieses Zusammenknausern und sich ständig verkaufen müssen, das funktioniert für mich nicht. Das beflügelt mich auch nicht. Ich wollte einen festen Job, um mich zu erholen und zu wissen, wie es weitergeht.

dieStandard.at: Sie schreiben im Buch, Sie würden Menschen gerne ermutigen zu träumen und Hoffnung zu haben. Ist das auch Ihr Ehrgeiz im Job?

Zimmer: Es ist etwas anderes, ob man ein Buch darüber schreibt, oder als Vertreterin des Gesetzes da sitzt. Ich versuche natürlich, alles Abwertende zu vermeiden. Die Leute merken, wenn man Verständnis für ihre Situation hat. Oft ist das auch der Schlüssel, um weiterarbeiten zu können. Es ist dort sicherlich nicht der Rahmen, um Träume zu entwickeln. Aber man hat Mittel, und wo man diese nutzen kann, dafür dass jemand zum Beispiel eine Ausbildung macht: das sind die schönen Momente.

dieStandard.at: Im Privatfernsehen geht man mit Hartz-IV-EmpfängerInnen nicht sehr respektvoll um. Wo kommen diese pauschalen Abwertungen her?

Zimmer: Was polarisiert, lässt sich besser verkaufen. Tatsächlich gibt es Dinge, die schwer zu verstehen sind, wenn man sie nicht erlebt hat. Gerade wenn es um Dinge geht, von denen man meint, sie seien ganz einfach zu lösen. Sich damit zu beschäftigen und zu sagen "Ich könnte es auch nicht besser", ist unangenehm. Wenn man sich an den Vorurteilen orientiert, hat man das Gefühl, selbst auf der sicheren Seite zu sein. Das hat in der Geschichte schon immer funktioniert. Gerade wenn es kriselt, versucht sich der Mensch nach unten abzugrenzen.

dieStandard.at: Sie selber schreiben im Buch oft von dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Erkennen sich darin nicht auch Nicht-Hartz IV-EmpfängerInnen wieder?

Zimmer: Ich finde es schön, dass mir Kollegen oder Leserinnen schreiben, sie erkennen sich wieder. Man denkt, das muss ja bei Leuten, die arm aufgewachsen sind, alles ganz anders sein. Aber das ist es nicht. Es sind die gleichen Gefühle, und man wird sich in vielem wiedererkennen. Natürlich vermischt sich da alles, was es auch sonst in der Gesellschaft an Typen, Gefühlen und Außenseiter-Geschichten gibt. Nur kommt noch dazu, dass sich der gesellschaftliche Status über einen langen Zeitraum tief einprägt.

dieStandard.at: Sie erzählen viel von Pauschal- und Vorurteilen. Haben Sie aufgrund Ihrer Armut auch Diskriminierung erlebt?

Zimmer: Ich weiß von anderen, dass es das gibt. Ich selber hatte den Vorteil, dass im intellektuellen Raum Geld und Status nicht so eine große Rolle spielen. Meine Taktik war die gleiche wie bei meinen Eltern: unauffällig bleiben und viel lesen. Damit kommt man ziemlich gut durch. Am deutlichsten fiel es mir am Ende des Studiums auf, da sagte ein Professor: "Ach, Ihre Eltern sind solche. Dann sind Sie eine der wenigen, die es geschafft haben." Das war als Anerkennung gedacht. Aber mich hat sehr erschüttert, in diese Schublade gesteckt zu werden.

dieStandard.at: Es heißt, Armut würde sich vererben. Würden Sie das bestätigen?

Zimmer: Meine Eltern kommen aus ganz normalen Familien, beide haben Schulabschluss, meine Mutter auch eine Ausbildung. Was sich meiner Meinung nach vererbt, ist ein Gefühl der grundlegenden Unsicherheit. Ich hatte den Vorteil, dass meine Eltern beide eine Vorliebe für Bildung, Wissen und Lesen haben. Das war ein großes Geschenk. Im Film "Fack ju Göhte" sagt der Lehrer zu einem Mädel: "Du bist hochbegabt." Eine totale Lüge, aber sie sagt: "Gott sei Dank, ich muss doch nicht Kassiererin werden." Eine schöne Satire, denn das ist tatsächlich in vielen Köpfen drin: Was kann ich denn schon werden?

dieStandard.at: Das Deutsche Kinderhilfswerk hat eine Umfrage zum Thema Kinderarmut veröffentlicht, laut der 66 Prozent der Befragten bereit wären, zur Unterstützung armer Kinder mehr Steuern zu zahlen. Das Hilfswerk fordert eine Kindergrundsicherung. Halten Sie das für sinnvoll?

Zimmer: Die Kinder werden dieses Geld nicht verwalten. Das sind immer so Lösungen, mit denen man die Verantwortung abwälzt. Dabei fängt es schon mit der Frage an: Wo gebe ich mein Kind in den Kindergarten? Wie ist die Schule ausgestattet, in die diese Kinder gehen? Ich habe in Schweden erlebt, dass es dort sehr unbürokratisch funktioniert. Da musste man keinen Antrag stellen, wenn man kein Papier dabeihatte. Ein Kind sollte nicht mit Gewalt integriert werden – aber es sollte ein Umfeld geschaffen werden, das allen die gleichen Voraussetzungen bietet.

dieStandard.at: Für die Grundsicherung von EU-Ausländern wiederum will weder in Deutschland noch anderswo jemand aufkommen, "Sozialtourismus" wurde gerade zum Unwort des Jahres 2013. Glauben Sie, es kommen nun scharenweise AusländerInnen über die Grenzen, um Hartz IV zu beziehen?

Zimmer: Die kommen wohl eher, um zu arbeiten. Ob es diese Jobs dann gibt, damit muss man sich beschäftigen. Viele deutsche Firmen haben schon vor zehn Jahren in Rumänien billig produziert und davon profitiert. Die Summe, die man jetzt groß aufbauscht, ist im Vergleich dazu klein. Wir sind mitschuld daran, dass die Wirtschaft in diesen Ländern am Boden liegt. Meine ganz idealistische Antwort wäre also: Es ist nur fair, sie bei der Arbeitssuche zu unterstützen. (Andrea Heinz, dieStandard.at, 17.1.2014)