Van der Bellen im Jahr 1992.

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Mit Monika Langthaler 1995 in Wien.

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Mit Markenzeichen, 1996.

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Van der Bellen im Jänner 2014: "Ich werde jetzt nicht den Chefmotivator spielen."

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STANDARD: Sie sind am Samstag 70 Jahre alt, gratuliere zum runden Geburtstag. Tut es weh oder können Sie es genießen?

Alexander Van der Bellen: Weder noch. Genießen jedenfalls nicht, ich habe lange gezögert, ob ich da was machen soll. In letzter Sekunde habe ich mich entschlossen, doch ein kleines Fest mit Freunden zu machen. Aber diese Zahlenmystik kann ich nicht nachvollziehen. Was ist der Unterschied zwischen 63-einhalb und genau 70?

STANDARD: Gibt es etwas, von dem Sie sagen, dass Sie es versäumt haben, etwas, das Sie gerne gemacht oder lieber nicht gemacht hätten?

Van der Bellen: Es ist müßig, Zeit vergeht unwiderruflich. Natürlich habe ich mir überlegt, ob ich nicht seinerzeit, als ich ein ganz junger Mensch war, mir genauer überlegen hätte sollen, was ich studieren will und warum. Ich war dann nicht unglücklich in dem Studium, ganz im Gegenteil. Rückblickend muss ich sagen, das waren schon sehr fixe Vorstellungen ohne große Reflexionen über das Für und Wider. Ich war zwar wahnsinnig gerne an der Universität, aber es gibt außerhalb der Uni auch sehr schöne und interessante Tätigkeiten.

STANDARD: Das hat sich dann ohnedies ergeben. Es hat Sie in die Politik verschlagen. Peter Pilz hat Sie quasi entdeckt.

Van der Bellen: Ja, das war eine Intrige von Pilz.

STANDARD: Zuvor waren Sie SPÖ-Mitglied. Haben Sie jemals wieder Lust verspürt, sich für die SPÖ zu engagieren, nachdem Sie dort ausgetreten sind?

Van der Bellen: Ich bin nicht ausgetreten. Eines Tages fand ich im Briefkasten ein Schreiben der SPÖ mit der gestempelten Unterschrift von Franz Vranitzky, sinngemäß: Wie schade, dass ich nicht mehr Mitglied bin. Offenbar habe ich meine Beiträge nicht gezahlt und wurde als Karteileiche betrachtet. Im Augenblick war das unangenehm, wenn man aus einem Verein, dem man doch zehn Jahre lang angehört hat, ausgeschieden wird.

Aber umgekehrt war es mir dann doch recht: Im Zuge der Auseinandersetzung um Hainburg habe ich mitgekriegt, wie gering das Verständnis in der SPÖ für das war, was da passiert ist, eigentlich null. Die haben im Ernst geglaubt, das sind die Kinder reicher Eltern, die in Hainburg für die Jagd vom Dichand demonstrieren. Und bei bestimmten Leuten, bei Josef Cap etwa, der 1983 natürlich meine Vorzugsstimme hatte, bin ich dann angeeckt: "Das Boot ist voll", sagte er. Zuwanderung und Umgang mit Ausländern, da ging mit der SPÖ gar nichts. Das waren aber zwei Politikbereiche, die mir immer sehr, sehr wichtig waren: die ökologischen Fragen und die Menschenrechte. Da fühlte ich mich dann ganz wohl, nicht mehr mitvertreten zu müssen, was die SPÖ vertritt.

STANDARD: Und dann sind Sie von Peter Pilz angeworben worden?

Van der Bellen: Ja, das war geschickt eingefädelt von ihm. Er und ich hatten zehn Jahre zuvor eine Studie über die österreichische Rüstungsindustrie veröffentlicht, mit erheblichem Wirbel in SPÖ und ÖVP. Er hat mich angerufen, es war Frühsommer 1993 vor den Ferien, und er sagte: "Du, es könnte sein, dass im 'Profil' demnächst steht, dass du eventuell Kandidat für die nächsten Nationalratswahlen bist." Ich habe gesagt: "Was? So ein Blödsinn!", habe aber nichts unternommen. Und wenn man da nichts unternimmt, dann kommt man nicht mehr aus. In meiner privilegierten Position als Professor und Beamter war das damals jedenfalls kein großes Risiko. Ich war 50, sehr glücklich an der Uni, aber das kannte ich seit 30 Jahren. Und wenn man sich schon über die FPÖ und Jörg Haider das Maul zerreißt, sollte man die Gelegenheit, wenn man sie schon hat, auch ergreifen und versuchen, tatsächlich selber etwas aktiv beizutragen. Das waren meine Hauptmotive. Aber ohne Pilz wär' das nicht passiert.

STANDARD: Wie haben Sie sich im Umgang mit den Medien getan?

Van der Bellen: Ich habe weit überwiegend positive Erfahrungen gemacht. Am Anfang hatte ich Glück, dass ich mich als Budgetsprecher meistens besser auskannte als die Journalisten. Es gab natürlich Leute, vor denen ich gewarnt wurde, du, der oder die hat mit den Grünen nichts am Hut, sei vorsichtig. Heikel waren für mich die Kollegen vom STANDARD. Wenn es geheißen hat, der Kollege X vom STANDARD kommt, gab es Alarmstufe Gelb. Nein, sie kommen zu zweit, dann war Alarmstufe Rot. Es war schon oft so, dass ich mich zwar im Text wiedererkannt habe, aber nicht in der Überschrift.

Aber das war nicht das Hauptproblem. Ich glaube, wir hatten wechselseitig das Problem, dass DER STANDARD weiß, dass seine Leser eine sehr hohe Überschneidung mit potenziellen Grün-Wählern haben, wir wissen das auch, und Journalisten motiviert das zu zeigen, dass sie objektive und g'standene Interviewer sind und nicht wie die Weicheier daherkommen. Die waren dann immer kritischer als andere. Das ist jetzt gar kein Vorwurf. Aber ich glaube, dass sich die STANDARD-Redakteure schwerergetan haben, einem nicht ein bissl ein Hackl reinzuhauen, während die "Salzburger Nachrichten" oder die "Presse" von Haus aus neutraler waren. Nicht unbedingt objektiver.

STANDARD: Haben Sie es genossen, in der Öffentlichkeit zu stehen?

Van der Bellen: Na ja, das hat schon seine Handicaps, auch heute noch. Ich finde es ja schön, wenn ich in meine Wohnung im sechsten Bezirk gehe und die eine Dame oder der eine Herr, die ich nicht kenne, grüßen mich freundlich. Das hat etwas Sympathisches, wie im Dorf. Und die, die mich nicht mögen, grüßen mich eh nicht, die lassen mich in Ruhe. Der Nachteil ist, du stehst unter latenter Beobachtung. Ich muss mich schon gut aufführen. Ich achte zum Beispiel immer darauf, keine Zigaretten wegzuschmeißen, sondern immer nach einem Behältnis zu suchen. Diese Nichtanonymität ist zumindest ambivalent.

STANDARD: Wie war das mit den Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern? Haben Sie das genossen? Legendär ist Ihre Zurechtweisung des Heinz-Christian Strache ...

Van der Bellen: Das war diese Budgetfrage, das war schon heiter. Das Video aus dem Parlament hat mittlerweile 200.000 Zugriffe auf Youtube, aber das war improvisiert und zufällig. Als ich ans Rednerpult ging, wusste ich nicht, dass der Kollege Strache keine Ahnung von dem hat, was er da geredet hat. Das hat sich erst in diesem improvisierten Zwiegespräch ergeben, bis er dann die Antwort verweigert hat. Das war schon lustig, aber das sind Highlights, die hat man einmal im Jahr, sonst gibt es auch viel Stillstand und Routine.

STANDARD: Wie ist Ihr Verhältnis als Politiker zur "Kronen Zeitung"?

Van der Bellen: Nicht so schlecht. Als Person. Nicht so schlecht in mehrfacher Hinsicht. Als Person haben sie mich entweder ignoriert oder ganz gut behandelt. Auf den Seiten zwei und drei. Unser Verhältnis zur "Kronen Zeitung" war immer ein komplexes, weil wir wussten, vorne werden Pilz und Stoisits niedergemacht, und die ganze Ausländerfrage war eine Katastrophe, von den Leserbriefspalten ganz zu schweigen. Aber im Chronikteil, in der Umweltpolitik, in Ökologiefragen war sehr häufig Verlass auf die "Kronen Zeitung". Jetzt ist das immer eine Gratwanderung. Im einen Fall kann man kooperieren, im anderen Fall weiß man von Haus aus, es ist sinnlos. Ich habe mich einmal im Jahr mit Hans Dichand getroffen, es war jedes Mal ganz interessant.

STANDARD: Hat er Ihnen auch Tipps gegeben?

Van der Bellen: Im Laufe der Zeit hat er es dann aufgegeben, aber er hat versucht mir einzureden, dass die Grünen mehr so wie Greenpeace sein sollten, also nur grün, nur Ökologiepartei. Ich war immer der Meinung, wir sind aber nicht Greenpeace. Wir sind auch eine Menschenrechtspartei und eine Frauenpartei und eine Bildungspartei und was weiß ich. Das gehört alles dazu, auch wenn die Ökologie die Poleposition hat. Da konnten wir uns nicht einigen.

STANDARD: War Jörg Haider auch so eine faszinierende Persönlichkeit, als die er im Rückblick von vielen gesehen wird?

Van der Bellen: Würde ich schon sagen. Seine Politik, vor allem in seinen ersten Jahren, also die "gute Beschäftigungspolitik des Dritten Reiches" oder andere Aussagen über die Waffen-SS, also alle diese Signale, die er ausgesandt hat an die Ewiggestrigen, war vollkommen inakzeptabel und, ich finde, auch blöd. Denn zusätzliche Wähler hat ihm das nicht gebracht, auch nicht in Kärnten.

Bei aller Verschiedenheit des Charakters und bei aller Unterschiedlichkeit der politischen Positionen, ein mediales Riesentalent war das schon. Ich bin ja physisch ganz selten mit ihm zusammengetroffen und in Fernsehkonfrontationen erst im Wahlkampf 2008. In dieser Zweiergeschichte mit ihm, wo ich auch schon 15 Jahre Erfahrung hatte, wie das im Fernsehen zugeht, habe ich mir gedacht, Gott sei Dank stoße ich erst jetzt auf ihn. Ich habe schon gemerkt, was er spielt: Tempo beschleunigen, Tempo verlangsamen, dir zuhören, woanders hinschauen, auf das Thema nicht eingehen – alle Tricks, die man nur anwenden kann, um den anderen aus dem Konzept zu bringen, hat der mit links beherrscht.

STANDARD: Wie unternehmungslustig fühlen Sie sich jetzt? Es gibt bei den Grünen einige, die es sehr schade finden, dass Sie nicht bereit waren, als Spitzenkandidat für die EU-Wahl anzutreten. Kam das für Sie gar nicht infrage?

Van der Bellen: Wenn ich etwas jünger wäre, schon, und vielleicht hätte ich es früher machen sollen, aber da kam niemand auf die Idee. Ich habe schon überlegt, denn in der kommenden Legislaturperiode kann das Europaparlament von extremer Wichtigkeit sein. Von der Bankenunion abwärts. Entweder bewegt sich die Union nach vorne, Stichwort Vereinigte Staaten von Europa, was immer das im Detail dann bedeutet, oder es kann auch sein, dass uns das Ganze unter den Händen zerbröselt. Trotzdem muss man sich dann schon auch die Details und den Alltag überlegen. Mein Leben zwischen Brüssel, Schwechat und Straßburg zu verbringen, tut mir leid, diese Kosten sind mir jetzt zu hoch.

STANDARD: Mit Ihnen sind auch die Grünen älter geworden. Wie würden Sie die Veränderungen beschreiben, die bei den Grünen stattgefunden haben?

Van der Bellen: Im Handwerklichen sind wir überhaupt nicht zu vergleichen, damit meine ich die Zeit vor 20, 25 Jahren, damit meine ich die alten Fragen wie nur Textplakate, was haben wir uns damals gequält. Oder sieben Köpfe, und beim Vorbeifahren sieht man nicht einen einzigen.

STANDARD: Jetzt werden Lämmer plakatiert.

Van der Bellen: War vielleicht ein Lamm zu viel. Hat schon gepasst, nur das letzte Lamm war mir zu viel.

STANDARD: Bei den Grünen hat man den Eindruck, dass die Enttäuschung über das Ergebnis der letzten Nationalratswahl noch nicht überwunden ist und sie nicht ausreichend motiviert sind für weitere fünf Jahre in der Opposition.

Van der Bellen: Die Nachwehen dieser Enttäuschung sind nach wie vor da. Ungeachtet dessen, dass wir in den Ländern sensationelle Erfolge gehabt haben. Aber auf Bundesebene war es zwar das beste Ergebnis aller Zeiten, aber eben unter den Erwartungen, die man haben konnte. Ich werde jetzt nicht den Chefmotivator spielen, das muss schon die neue Generation unter sich ausmachen.

STANDARD: Wie taugt es Ihnen im Wiener Gemeinderat?

Van der Bellen: Im Gemeinderat bin ich ja ein Hinterbänkler.

STANDARD: Nimmt man einen Niveauabfall zwischen Parlament und Gemeinderat wahr?

Van der Bellen: Man muss dazusagen, natürlich sind die Themen andere. Aber insgesamt sicher ja, vor allem wenn ich mir die FPÖ anschau. Das ist schon noch einmal eine Stufe tiefer als im Nationalrat. Die ÖVP ist für mich eine schwere Enttäuschung, das ist altvaterisch, nicht urban, was die da machen. Das Erscheinungsbild und die Themen, die sie vertreten, tut mir leid, das ist yesterday. Den Grünen kann es recht sein. Für Neos oder eine ähnliche Partie ist das ein offenes Scheunentor. Seit Buseks Zeiten verändert sich die Wiener ÖVP nur ins Uninteressante. Ich mag die Rathausarchitektur nicht, aber das kann man nicht ändern. Das Parlament ist vergleichsweise von seinem architektonischen Anspruch her ein bescheidenes Gebäude. Es versucht nicht, dich zu erdrücken. Das Rathaus strahlt einen ganz anderen Machtanspruch aus.

STANDARD: Passt gut zum Wiener Bürgermeister, oder?

Van der Bellen: Ich mag den Häupl, ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich ihn für einen Intellektuellen halte, der sich mit Erfolg als volksnah gebärdet.

STANDARD: Das Rauchen geht wieder ganz gut, oder?

Van der Bellen: Wie in alten Zeiten.

STANDARD: Woran ist das Aufhören gescheitert?

Van der Bellen: Ich habe vier Monate aufgehört zu rauchen. Ich habe echt keine einzige Zigarette geraucht. Aber es war immer schwierig, und ich habe mich immer ertappt, zu den unmöglichsten Gelegenheiten, das kann bei so einer Besprechung sein, das kann auf der Straße sein, oder so, jetzt aber eine anzünden – und ich kann nicht. Den Rest hat mir Herr Liebscher gegeben von der Nationalbank. Der raucht ja. Wir kennen und schätzen einander seit Jahren. Da waren wir auf einer WU-Veranstaltung, der Liebscher kommt zu mir und sagt, gemma eine rauchen. Dann fällt ihm ein, der raucht ja nicht mehr. Er fasst mich so väterlich bei der Schulter, schaut mir tief in die Augen und sagt: "Lassen S' doch den Blödsinn." Mehr habe ich nicht gebraucht, und schon bin ich die nächste Trafik gegangen.

Was soll ich mich in meinem Alter noch quälen. Obwohl ich in diesem vorzüglichen Seminar war, da hat mir die Psychologin herrlich erklärt, dass das alles über das Gehirn geht, da wird einem etwas vorgespielt, und man unterwirft sich der Zigarette, nicht umgekehrt. Das habe ich alles total verstanden, und am Ende jenes Tages, als wir die letzte Zigarette rauchen sollten, habe ich gleich am Anfang ausgedämpft. Da habe ich wirklich die Nase voll gehabt von mir selbst, dass ich mich derart willenlos einer Sucht unterwerfe. Aber dann war ich eben zu schwach. (Michael Völker, DER STANDARD, 17.1.2014)