Gooool do Brasil – Kartografie einer nationalen Leidenschaft

Text und Fotos: Alois Gstöttner
176 Seiten, 17×22 cm, 86 Abbildungen
Verkaufspreis: 24 Euro
ISBN: 978-3-200-03492-1

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Der Journalist und Fotograf Alois Gstöttner, Jahrgang 1975, lebt seit mehreren Jahren zwischen São Paulo, Rio de Janeiro und Wien. "Aluízio" entdeckte seine Liebe zu Futebol während der Weltmeisterschaft in Spanien, im Sommer 1982. Mehr als zwei Jahrzehnte später reiste er zum ersten Mal nach Brasilien. Sein erster Interviewpartner: Sócrates, Kapitän der Seleção von 1982.

Foto: robausch

In des Autors Wiener Wohnung findet sich auch für den argentinischen Lieblingsfeind ein Platzerl. Über die bemerkenswerte Anzahl an Fotos in "Gooool do Brasil" meint Gstöttner: "Es war eine Herausforderung, die Grenzen der Genres Text- und Bildband ein bisschen zu perforieren. Ich sehe es als Qualität, dass beide Ebenen da sind."

Foto: robausch

derStandard.at: Die Entstehungsgeschichte von "Gooool do Brasil" reicht weit zurück, bis zur Weltmeisterschaft 1982 ...

Gstöttner: Ja. Das war mein erster Kontakt zum brasilianischen Fußball, zum Fußball überhaupt eigentlich. Da war ich sechs Jahre alt.

derStandard.at: Was war das Faszinierende an diesem Team?

Gstöttner: Ich glaube, es war eine Sache der Typen. Davon hatten die Brasilianer damals ja nicht gerade wenige. Außerdem spielt bei meiner Generation da sicher auch eine verklärende Mythenbildung eine Rolle. Jemand wie Sócrates, ist ja europaweit unglaublich populär bei Menschen, die ihn in ihrer Jugend erlebt haben. Dazu kommt das Gerede vom "schönen Spiel" und natürlich das romantisch-tragische Scheitern der 82er-Mannschaft.

derStandard.at: Ich habe die Brasilianer von damals als meilenweit über den anderen stehend in Erinnerung. Viel schneller, viel besser.

Gstöttner: Ich habe mir die Spiele von damals noch einmal angeschaut. So wahnsinnig überlegen war Brasilien nicht. Man möchte das gerne so sehen: die Brasilianer als die Offensivkünstler, die Italiener als der destruktive Part. Wenn so etwas oft genug erzählt wird, glaubt man es irgendwann.

derStandard.at: Ein Interview mit Sócrates, dem Mittelfeldstar der 1980er-Jahre, außerdem Doktor der Medizin und hochpolitischer Kopf, erwies sich dann auch als Nukleus des Buchprojekts?

Gstöttner: Das ergab sich zum Jahreswechsel 2008/09, als bereits feststand, dass die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien stattfinden wird. Das Interview führte ich gemeinsam mit meiner Kollegin Karina Lackner.

derStandard.at: Wie hat sich die Kontaktaufnahme gestaltet?

Gstöttner: Ganz unproblematisch. Man bekommt eine Telefonnummer, Sócrates hebt ab, und man trifft sich mit ihm in irgendeiner Bar. Das war ganz locker. Wir haben sicher zehn Stunden mit ihm geredet, inklusive zwei Bieren davor und dreien danach. Er war da gesundheitlich noch voll fit, obgleich offensichtlich war, dass er schwerer Alkoholiker ist. Das war auch überhaupt kein Geheimnis. [Anmerkung: 2011 verstarb Sócrates mit 57 Jahren]

Er konnte sofort mit jedem, ob das der Kellner oder der Koch war, und war auch überhaupt nicht genervt von permanenten Autogrammwünschen. Man sah, dass ihm das Schmähführen über Fußball oder Frauen einfach Spaß macht. Und er ist natürlich ein sehr interessanter Bursche, bei dem es einiges über den Fußball hinaus zu erzählen gibt.

derStandard.at: Es gibt im Buch die Episode, wo Sie ein Taxifahrer nach Ihrem Lieblingsklub fragt – sozusagen die Initiation zum echten Fußball-Brasilianer. Sie bekennen sich dann zu Corinthians São Paulo.

Gstöttner: Auch das hat mit Sócrates zu tun, mit der von ihm zu Zeiten der Miltärdiktatur initiierten Demokratiebewegung im Verein, der Democracia Corinthiana. Aber mir gefiel auch die Gründungsgeschichte des Klubs sehr. Corinthiana steht – untypisch für den brasilanischen Fußball in seiner Frühzeit – auf einer völlig unelitären Basis. Das Image als Arbeiterverein hat der Klub immer noch, auch wenn es mittlerweile eher als Marketinginstrument eingesetzt wird. Auch ihre Torcida, die organisierten Anhänger, finde ich sympathisch. Sie sind sehr leidenschaftlich, zum Finale der Klub-WM 2012 haben 20.000 die Mannschaft nach Japan begleitet.

derStandard.at: Sie wählen in Ihrem Buch einen durchaus persönlichen Zugang zum Thema und verzichten bewusst auf einen ganzheitlichen Anspruch.

Gstöttner: Für mich war der Fußball ein Antrieb, bei meinen Reisen nach Brasilien etwas zu unternehmen, das nicht unbedingt auf der Hand liegt. Orte zu besuchen, die doch ziemlich im Abseits liegen. Manaus zum Beispiel, eine Großstadt mitten im Dschungel, wo der Peladão, das größte Amateur-Turnier der Welt samt Wahl einer Schönheitskönigin, veranstaltet wird. Es war ein alternativer Weg, das Land kennenzulernen. Außerdem hat man als Fußballinteressierter immer sofort einen Sympathievorsprung. Es wird ein bisschen zum Trieb, sich immer tiefer in die Materie zu versenken. Es beginnt mit einem Erstligaspiel und endet in einer Haftanstalt, beim Match des Gefängnis-Cups.

derStandard.at: Kann der Fußball wirklich ein Schlüssel sein, um die brasilianische Gesellschaft besser zu verstehen?

Gstöttner: Was auf jeden Fall funktioniert: Du kommst über Fußball sofort mit allen ins Gespräch. Mit Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Jeder, auch wenn er nicht unbedingt ins Stadion geht, hat ein Fußballteam und redet auch sehr gerne darüber.

derStandard.at: Ein Widerspruch zu den sehr niedrigen Zuschauerzahlen in der Brasileirão, der nationalen Meisterschaft ...

Gstöttner: In den 1980er-Jahren begann das Interesse abzunehmen. Das war auch die Zeit, in der der Transferwahnsinn Richtung Europa begonnen hat. Mit dem immer früheren Abgang der Talente fehlten plötzlich die Identifikationsfiguren. Bis heute ist das ein Problem, es gibt kaum Spieler die länger bei einem Verein spielen. Die Liga wurde schwächer, auch finanziell. Man konnte mit der Entwicklung in Europa nicht mehr Schritt halten. Die Kartenpreise sind zudem relativ hoch, die Anpfiffzeiten schlecht. Das gilt auch für die Stadion-Infrastruktur. Die Leute schauen Fußball mittlerweile lieber zu Hause vor dem Fernseher, mit Freunden und einer Grillage. Immerhin ist der Ligaschnitt in der letzten Saison wieder leicht auf 14.000 gestiegen.

derStandard.at: Es gibt zwei Sichtweisen auf Brasilien: Die vom aufstrebenden Wirtschaftsgiganten wird mittlerweile konterkariert durch jene deutlich weniger euphorische, welche durch die soziale Protestbewegung verkörpert wird, die sich anlässlich des Confed-Cups 2013 erstmals weltweite Aufmerksamkeit verschafft hat.

Gstöttner: Das Problem bei den Demonstrationen war: Es geht gegen alles. Die FIFA, die WM, die Misere im Gesundheits- und Sozialsystem, die Einschränkung des Rechts auf Abtreibung. Immer ein großes Thema ist die mangelhafte öffentliche Infrastruktur: Beispiel Salvador, eine Stadt mit 2,6 Millionen Einwohnern. Seit 15 Jahren gibt es dort den Plan, eine U-Bahn zu bauen. Bis heute hat man einen Kilometer geschafft. Auf der anderen Seite wird halbwegs zügig ein schickes, topmodernes Stadion hingestellt. Kein Wunder, dass die Leute da sauer werden. Und wenn Pelé dann meint, die Menschen sollten doch patriotischer sein, die WM unterstützen, dann finde ich das zynisch.

derStandard.at: Die brasilianische Gesellschaft gilt nicht unbedingt als besonders solidarisch ...

Gstöttner: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist gigantisch. Allein in Rio leben zwei Millionen Menschen in Favelas und haben große Schwierigkeiten, ihren Arbeitsplatz in anderen Stadtvierteln zu erreichen. Das ist ein Riesenproblem, auch weil Fahrkaten für den öffentlichen Verkehr viel kosten. Ich bin sicher, dass es während der Weltmeisterschaft wieder zu Kundgebungen kommen wird. Die Polizei wird aber sehr gut vorbereitet sein – und diesmal hoffentlich auch besser krisengeschult. Das Vorgehen im letzten Sommer und Herbst war ja großteils völlig überzogen.

derStandard.at: Wie war das, als Sie das Feld suchten – und fanden! -, auf dem das allererste Fußballspiel Brasiliens stattgefunden haben soll?

Gstöttner: Das ist heute ein Park zwischen den Stadtautobahnen von São Paulo, einer Gegend mit nicht der besten Nachrede. Es gibt dort viele Obdachlose und auch ein größeres Drogenproblem. Was es mit der Geschichte des Ortes auf sich hat, habe ich erst erfahren, nachdem ich dort vorbeikam. Das war ein emotionaler Höhepunkt. 1895 hat dort das erste Spiel in Brasilien stattgefunden.

derStandard.at: Wie ist das dort heute?

Gstöttner: Man kann dort nach wie vor nett kicken, im letzten Jahr wurden sogar neue Tore aufgestellt. Die Entwicklung von São Paulo ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich größere soziale Zusammenhänge im Fußball abbilden. 1900 hatte die Stadt 100.000 Einwohner, mittendrin wurde Fußball gespielt. Im Zuge des rasanten Wachstums wurde er zunehmend an die Ränder abgedrängt. Mittlerweile gibt es nur noch wenige Spielfelder in Zentrumsnähe. Gerade in São Paulo gibt es – ähnlich wie in Europa – kaum mehr öffentlich zugängliche Spielflächen. Der Mythos vom straßenkickenden Supertalent, das zwei Wochen später in der Seleçao steht, hat nichts mehr mit der Realität zu tun. Allerdings gibt es landesweit gigantisch viele Fußballschulen, wo Spieler geradezu herangezüchtet werden. Unter harten Bedingungen. Im Unterschied zu Europa sind diese aber meist nicht an einen Verein gekoppelt.

derStandard.at: Eine der schillerndsten Persönlichkeiten, denen Sie auf Ihren Expeditionen begegnen, ist der Schiedsrichter Dourado.

Gstöttner: Dourado ist eine lokale Größe. Er pfeift seit vielen Jahren jeden Samstag und Sonntag Spiele bei der Copa Kaiser, einem großen, nach einer Brauerei benannten Amateurbewerb. Hunderte Mannschaften nehmen daran teil. Früher war sie noch ein Sprungbrett in den Profifußball. Jetzt hat kaum noch einer die Hoffnung, dort entdeckt zu werden. Schiedsrichter ist ja überall ein schwieriger Job. Hier, in diesem manchmal doch etwas heiklen Umfeld, gilt das umso mehr. Es geht weniger darum, ob ein Einwurf regelkonform war, sondern darum, die Gruppe unter Kontrolle zu halten.

derStandard.at: Pragmatik ist also gefragt...

Gstöttner: Definitiv. Er hat mir erzählt, dass Spiele zwischen Favela-Teams, die von Drogenbossen finanziert werden – und wo sich Dourado im Vorfeld von beiden Seiten unter Druck gesetzt fühlt – dann eben oft unentschieden ausgehen. Er ist eine große Plaudertasche, man weiß nicht immer, woran man genau ist. Zum Beispiel bei der Geschichte über die Türsteher-Mannschaften, die angeblich immer auch den besten Goalie stellen (lacht). (Michael Robausch, derStandard.at, 4.3.2014)

Foto: Alois Gstöttner

Fotos aus dem Buch in der Ansichtssache: "Stationen einer nationalen Leidenschaft"