Physikalisch ist leicht zu überprüfen, ob eine Diät funktioniert oder nicht, sagt der Physiker, Sportwissenschaftler und Autor Martin Apolin. Was Menschen beim Abnehmen falsch machen, erklärt er im Gespräch mit derStandard.at.
derStandard.at: Noch ein Buch über Diäten - hat das die Welt wirklich gebraucht?
Apolin: Wahrscheinlich eh nicht. Aber es ist wenigstens anders: Ein Buch, in dem realistische Zahlen stehen.
derStandard.at: Sie schreiben, beim Thema Diäten werde gelogen wie sonst nur in der Politik. Warum ist das so?
Apolin: Es ist eine Mischung aus finanziellen Überlegungen und Gutgläubigkeit. Die eine Gruppe lügt, weil sie damit sehr gut Geld verdienen kann, und die andere Gruppe lügt sich selbst an, weil sie selbst gerne an die Versprechen glauben möchte.
derStandard.at: Es ist für die Konsumenten - oder in diesem Fall eher Abstinenten - aber doch leicht zu überprüfen, ob eine Diät funktioniert oder nicht.
Apolin: Genau das wird aber leider nicht gemacht. Ich wollte ganz nüchtern nachrechnen, ob die Behauptungen und Verheißungen wissenschaftlich gesehen überhaupt stimmen können und beim Thema Essen endlich Zahlen auf den Tisch bringen.
derStandard.at: Viele Ernährungsratgeber zeigen die medizinische Seite. Was bringt ihr Versuch, das Thema Ernährung aus einer physikalischen Perspektive zu betrachten?
Apolin: Der wichtigste Punkt, von dem ich ausgehe, ist der Energieerhaltungssatz. Energie verpufft nicht und entsteht auch nicht aus dem Nichts. Was reinkommt in den Körper, muss in irgendeiner Form - Wärme, Bewegung - auch wieder raus. Sprich, die Energiebilanz muss stimmen. Ein Mensch nimmt an Gewicht zu, wenn er mehr isst, als er wieder verbraucht - und nimmt ab, wenn es umgekehrt ist.
Das ist ein physikalische Tatsache und diese wackelt auch nicht, weil Physik im Gegensatz zur Medizin eine exakte Naturwissenschaft ist. In der Medizin hängen Ergebnisse hängen stark von Stichproben ab. Untersuchungen zu einem Thema können daher große Abweichungen haben, weil der Mensch sehr komplex und die individuellen Unterschiede sehr groß sind. Die Physik liefert wasserfeste Ergebnisse.
derStandard.at: Wie lange muss man beispielsweise laufen, um ein Kilogramm Fett zu verlieren?
Apolin: Das kommt auf die Körpermasse an - eine Person mit 70 Kilogramm muss ungefähr 100 Kilometer laufen, um ein Kilogramm Fett abzunehmen, eine Person mit 100 Kilogramm etwa 70 Kilometer. Als Faustregel gilt hier: Wenn die Zahl 7000 durch das eigene Körpergewicht in Kilogramm dividiert wird, kommt man etwa auf die benötigten Laufkilometer.
derStandard.at: Kann ich mich auch nur von Schweinsbraten ernähren und trotzdem abnehmen?
Apolin: Ja, das ist möglich - allerdings nur, wenn Sie weniger Schweinsbraten essen, als Ihr täglicher Grundumsatz ist. Es muss zwischen einer negativen Energiebilanz - also dem Abnehmen - und einem gesunden Lebensstil unterschieden werden. Theoretisch reicht es täglich lediglich ein Gläschen Olivenöl trinken - das deckt auch den Tagesbedarf, ist aber nicht so gesund.
derStandard.at: In Ihrem Buch gehen sie auf das weit verbreitete Bonmot "Ich nehme schon zu, wenn ich das Essen nur ansehe" ein. Ist das tatsächlich möglich?
Apolin: Der Grundumsatz eines Menschen ist sehr individuell und hängt von der Masse, dem Geschlecht, dem Alter, dem Beruf, dem Alltag, dem Stoffwechsel und noch sehr vielen anderen Dingen ab. Es gibt beispielsweise eine Untersuchung, die darauf hinweist, dass groß gestikulierende Menschen bis zu einem Drittel mehr Energie benötigen. Menschen die immer mit dem Lift fahren und alle Wege mit dem Auto erledigen, haben eventuell das Gefühl, dass sie schwer abnehmen. Wenn man aber berechnet was in Summe an Bewegung zusammen kommt, wenn man immer Stiegen steigt oder zu Fuß geht, ist das eine ganze Menge.
derStandard.at: Sind Reiterhosen, Bierbauch und Sixpack eine Frage der Gene oder kann ich durch gezielte Diät etwas verändern?
Apolin: Mit dem Energiesatz nachhelfen, was die Genetik vorbestimmt hat, ist nur insofern möglich, als das Fett abgenommen wird. An welcher Körperstelle sucht sich der Körper selbst aus. Die sogenannte "Spot Reduction" gibt es nicht. Wenn jemand Bauch, Beine und Po trainiert, heißt das nicht, dass die Person auch dort abnimmt.
derStandard.at: Das heißt, es kann passieren, dass ich weniger esse, meinen Bauch und meine Beine trainiere, aber dünne Oberarme bekomme?
Apolin: Genau. Beim Fett ist der Körper sehr eigenwillig. Das der Mythos "Spot Reduction" Unsinn ist, lässt sich leicht beweisen, indem man asymmetrisch trainierende Sportler untersucht: Ein Tennisspieler müsste demnach am Tennisarm viel weniger subkutanes Fettgewebe haben als am anderen Arm - dem ist aber nicht so.
derStandard.at: Was machen die meisten Menschen beim Abnehmen falsch?
Apolin: Sie sind erstens nicht realistisch und zweitens nicht geduldig genug.
derStandard.at: In Ihrem Buch lassen Sie auch anklingen, dass sich viele falsch abwiegen.
Apolin: Wenn man zwei Kilogramm Fett im Monat abnimmt, dann sind das pro Tag etwa 80 Gramm. Solche kleinen Größen zeigt keine Körperwaage an. Dann kommen da noch Harnblase, Darmentleerung und Mageninhalt dazu und versauen die Zuverlässigkeit der Versuchsreihe. Wenn man sich schon wiegt, dann sollte das maximal ein Mal in der Woche gemacht werden. Ansonsten empfehle ich alltägliche Prüfmethoden wie Gürtellöcher und Hosengrößen.
derStandard.at: Warum "müssen" wir eigentlich ständig abnehmen? Es scheint so, als könnten fünf Kilo weniger nie und niemandem schaden.
Apolin: Ich denke, es handelt sich hier um ein verschobenes Körperbild. Klar gibt es medizinische Probleme bei deutlichem Körpergewicht. Aber die Messlatte des Schönheitsideals liegt kilomäßig weitaus niedriger als die medizinische.
derStandard.at: Sie lassen anklingen, dass es evolutionär betrachtet wahrscheinlich gar nicht so eingerichtet ist, dass der menschliche Organismus überhaupt abnehmen kann. Eine triste Aussicht.
Apolin: Wenn die Nahrung reduziert wird, reduziert sich automatisch auch der Grundumsatz - denn wenig Nahrung ist für den Körper ein Signal für Gefahr. Unsere Gene wissen noch nicht, dass wir zu Hause einen Kühlschrank haben. Der Mensch ist seit zehntausend Jahren sesshaft. Bei fünf Generationen pro Jahrhundert sind das also fünfhundert Generationen bis heute. Das ist viel zu wenig Zeit für eine signifikante Änderung der Gene. Wir haben also einen Großteil der alten Mechanismen auf die Nahrung bezogen, noch in uns. Und damals bedeutete weniger Nahrung eben Alarmstufe rot.
derStandard.at: Heißt das, mit dem Abnehmen arbeiten wir gegen die Natur?
Apolin: Durchaus. Und deshalb ist ja auch alles was radikal ist, wie Nulldiäten, schlecht, weil dabei viel Muskelmasse verloren geht.
derStandard.at: Hungerkünstler oder Menschen, die ausschließlich von Licht leben üben eine große Faszination aus. Was sagt die Physik dazu?
Apolin: Alles Betrüger. In dem Moment, wo ein Lebewesen eine Körpertemperatur hat, die über der Raumtemperatur liegt, fließt nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik Energie aus dem Körper. Und die muss irgendwie durch Nahrung ersetzt werden. Wenn jemand Hungerkünstler oder Lichtnahrung physikalisch belegen könnte, dann würde die Person sofort den Physiknobelpreis bekommen. (Olja Alvir, Video: Siniša Puktalović, derStandard.at, 20.1.2014)