DR-Infochef Ulrik Haagerup: "Der Reporter der Zukunft ist kein junger Kerl mit sieben Armen, der zu jeder Zeit jede Story für jede Plattform produziert. Wann hat dieser Journalist dann Zeit für Recherche?"

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Wien – Das Forum Journalismus und Medien (fjum) holte den Infochef des dänischen Rundfunks DR, Ulrik Haagerup, nach Wien. Er berichtete am Donnerstag in der Wiener Concordia über "Con structive Journalism". Zuvor erklärte Haagerup dem ORF-Management, wie man kluge Newsrooms für verschiedenste Medien baut.

STANDARD: Sie empfehlen Medienhäusern einen neuen Zugang in ihrer Berichterstattung und nennen das "Constructive News". Was haben wir uns darunter vorzustellen?

Haagerup: Das ist ein Kampf gegen das seit Jahrzehnten praktisch von allen Medien gelebte Prinzip, dass nur Stories gut sind, die auf einem Konflikt aufbauen, einer dramatischen Situation, einem Opfer – und alles andere wäre Werbung und nicht mehr Journalismus. "Constructive News" bedeutet eine Ergänzung der traditionellen Kriterien, was berichtenswert ist: Wir müssen unsere Filter bei der Wahrnehmung der Welt anders justieren. Unseren Nachrichten – und da spreche ich nicht von Entertainment- oder Lifestyle-Stories – lassen die Menschen depressiv werden – oder sie wenden sich von den traditionellen Medien ab. Die "Huffington Post" ist inzwischen die zweitgrößte Newsplattform der Welt. Seit 2012 hat sie eine Rubrik für "Good News". Die Beiträge dort werden am häufigsten über soziale Netze weiterverbreitet. Wir aber zeichnen eine Welt von Selbstmordattentätern, Kriminellen, politischem Streit, Problemen von Minderheiten und Interessengruppen, die vor den Übeln dieser oder jener Gesetzesinitiative warnen.

STANDARD: Vermutlich warnen sie ab und an ja zurecht – und Selbstmordattentäter, Krimininelle und Streit gibt es nun einmal.

"Die Welt mit beiden Augen sehen"

Haagerup: Wir zeichnen aber ein falsches Bild von der Welt. Nehmen Sie unser Bild von Afrika: Krieg, unfassbare Grausamkeit, Hunger, HIV-Infektionen und andere Seuchen, Überbevölkerung, Armut. All das gibt es und wir dürfen es nicht verschweigen. Das wahre Bild Afrikas ist ein anderes. In vielen Staaten Afrikas gibt es gewaltiges Wirtschaftswachstum – und inzwischen sogar stark zunehmende Wohlstandskrankheiten. Guter Journalismus bedeutet, die Welt mit beiden Augen zu sehen.

STANDARD: Sie raten Journalisten, nicht nur Probleme zu zeigen, sondern auch Lösungsansätze zu liefern.

Haagerup: Die Idee ist nicht, dass Journalisten Lösungen liefern. Das ist eine Aufgabe der Politik. Aber wir können die Aufbereitung von Nachrichten bestimmen – etwa ob wir zwei Menschen in einer Studiodebatte aufeinanderkrachen lassen. Oder ob wir vielleicht auch zu Lösungen zwischen den beiden inspirieren können. Wenn wir in Dänemark ein Problem erkennen, das wir für gesellschaftlich wichtig halten. Der gewohnte Ablauf wäre: Wir berichten – und fragen Politiker, was sie da tun wollen; wir holen zwei ins Studio und lassen sie darüber streiten. Der Ansatz konstruktiver Nachrichten wäre, nach positiven Erfahrungen in anderen Ländern zu suchen und sie zu präsentieren. Was haben zum Beispiel die Österreicher in dem Fall gemacht? Das inspiriert die öffentliche Debatte. Journalismus sollte der Gesellschaft nützen, in der er sich bewegt.

STANDARD: Da schwingt für einen traditionell sozialisierten Journalisten viel mit von Schönwetter, womöglich sogar PR.

Nordkorea grüßt

Haagerup: Viele Journalisten sagen: Das ist kein Journalismus, das ist Werbung. Sie vermuten: Das ist ein Versuch, dem kritischen, investigativen Journalismus die Zähne zu ziehen. Das wäre ein Versuch sein, Journalismus in eine Art nordkoreanischen Schönfärbejournalismus zu verwandeln. Oder ein kommerziell motivierter Versuch, Journalismus auf heldenhafte Einsätze von Feuerwehrleuten bei der Rettung von Katzen aus Baumkronen zu reduzieren. Diesen Journalismus meine ich nicht. Ich will preiswürdigen Journalismus, der Fehlentwicklungen und Fehlverhalten aufdeckt. Aber: Nicht nur kritischer Journalismus ist Journalismus. Eine gute Story braucht nicht zwingend Bösewichte, Skandale, Konflikte. Und das können auch verdammt gute Stories sein, weil sie die Menschen inspirieren.

STANDARD: Zum Beispiel?

Haagerup: Eine Story über den Vater eines Autisten in Dänemark. Der seinen Job aufgibt, um seinem Sohn zu helfen. Alle achten nur auf die Fähigkeiten, die seinem Sohn fehlen. Aber nicht auf jene, die er hat – Autisten sind Nerds, die kleinste Details sehr genau erkennen. Also hat dieser Vater eine Beratungsfirma gegründet, die nur Autisten beschäftigt, die etwa Softwarefirmen bei der Prüfung von Programmen helfen. Diese Firma – eine Stiftung namens Specialist People – ist nun in 17 Staaten in aller Welt tätig. Sie will bis 2017 eine Million Menschen mit Autismus beschäftigen. Das erklärt auch gut das Prinzip von "Constructive Journalism": Er covert auch Dinge, die funktionieren, statt nur über jene Dinge zu berichten, die schief laufen.

"Viele Führungskräfte den Job gekostet"

STANDARD: Sie sind 2007 in Ihre heutige Position als Infochef des dänischen Rundfunks DR gekommen – davor hat sich bei DR einiges abgespielt: Die Kosten für die neue Unternehmenszentrale des dänischen Rundfunks mit dem multimedialen Newsroom und einer großen Konzerthalle liefen dermaßen aus dem Ruder, dass das Projekt den DR-Generaldirektor den Job kostete.

Haagerup: Das Projekt hat viele Führungskräfte bei DR den Job gekostet. Der Newsroom war nicht der Grund für die massive Budgetüberschreitung, das war die Konzerthalle. Natürlich darf sie das Projektbudget nicht so weit überschreiten. Aber fünf Jahre nach ihrer Eröffnung ist sie unbestritten, die Menschen lieben sie. Und wer in unserem Newsroom arbeitet, auch wer ihn besucht, der versteht, warum er wichtig ist.

STANDARD: Nämlich?

Haagerup: Wenn Sie wollen, dass Menschen auf ganz neue Art zusammenarbeiten, ist die Architektur wichtig. Das neue DR-Gebäude wurde nach dem Grundgedanken konzipiert, dass die Story wichtiger ist als die Plattform. Wir haben kein Fernseh-Gebäude gebaut, kein Radiohaus, auch kein Online-Haus. Wir haben ein Medienhaus für die Dänen gebaut. Wir produzieren Stories für alle von ihnen.

STANDARD: Der ORF hat sich, wie es scheint, gegen einen Neubau entschieden, auch wenn nun wieder Standortideen kursieren (etwa am neuen Zentralbahnhof). Derzeit gilt eine Erweiterung des bestehenden ORF-Zentrums für einen neuen gemeinsamen Newsroom als wahrscheinlichste Variante. Vielleicht haben sich ja Führungskräfte vom dänischen Beispiel abbringen lassen.

Haagerup: Dazu kann ich natürlich nichts sagen

STANDARD: War auch eher eine Spekulation als eine Frage. Würden Sie mit ihren Erfahrungen den DR-Newsroom als Vorbild empfehlen?

Haagerup: Wir haben damals und seither versucht, den ambitioniertesten Multimedia-Newsroom der Welt zu bauen. Ich kann nicht sagen, dass wir ihn verwirklicht haben – aber das ist unser Ziel. Und wir haben einige Erfahrung mit der Organisation solcher Newsrooms gesammelt.

STANDARD: Sehe ich richtig, dass bei DR in dem neuen Newsroom Fernseh-, Radio- und Onlinejournalisten zusammenarbeiten? Macht da jeder alles?

Haagerup: Journalisten müssen keineswegs jede Story für jede Plattform aufbereiten. Aber Radio, Fernsehen, Online sitzen nah beisammen. Aber statt wie früher zwei, drei, bis zu sieben verschiedene Reporterteams auszuschicken für ein und dieselbe Story, versuchen wir mehr zu planen, zu kooperieren, uns auszutauschen. Und wir schicken vielleicht nur mehr eine Crew für eine Story. Deren Material nutzen dann Radio, Online und unsere verschiedenen TV-Formate.

STANDARD: Klingt nach Sparpotenzial.

Haagerup: Nein, wir haben insbesondere an unserer Qualität gearbeitet: Journalistische Spezialisten für jene Gebiete, in den wir besonders stark sein wollen: Welt- und Innenpolitik, Wirtschaft, Gesundheit etwa. Wir haben als Medienhaus zwei Aufgaben: Dem Publikum 24 Stunden und sieben Tage die Woche das Wichtigste zu liefern, das in der Welt und in Dänemark passiert, seit sie das letzte Mal eine unserer Plattformen besucht haben. Und, das wird immer wichtiger: Dem Publikum zu vermitteln, warum das passiert ist. Die Menschen brauchen nicht mehr Nachrichten, sie brauchen bessere Nachrichten. In unserem Multimedia-Newsroom können wir unsere Stärken weit besser nutzen im Sinne journalistischer Qualität.

STANDARD: Der ORF soll 2014 über einen solchen multimedialen Newsroom auf dem Küniglberg entscheiden. Einige ORF-Delegationen haben ja schon bei DR vorbeigeschaut. Wenn Sie schon in Wien sind, könnten Sie ja auch gleich dem ORF mit Ihren Erfahrungen bei der Entscheidung helfen.

Haagerup: Als die Kollegen vom ORF hörten, dass ich in Wien bin, haben sie mich erst eingeladen, auch bei ihnen über Constructive News zu referieren. Nun referiere ich über Multimedia-Newsrooms.

Das Dümmste

STANDARD: Mit ihrer Erfahrung: Wovor würden Sie dem ORF bei einem solchen Projekt warnen?

Haagerup: Das Dümmste wäre, ein solches Vorhaben als Sparmöglichkeit zu sehen. Internet-, Radio- und Fernsehleute zusammenzubringen bedeutet: Ressourcen gemeinsam zu nützen. Das sollte man als journalistisches Projekt angehen – nicht um Kosten zu senken. Und: Der Reporter der Zukunft ist kein junger Kerl mit sieben Armen, der zu jeder Zeit jede Story für jede Plattform produziert. Wann hat dieser Journalist dann Zeit für Recherche?

STANDARD: Also braucht es jedenfalls auch Spezialisten für die jeweiligen Plattformen, für Fernsehen etwa oder für mobile Empfangsgeräte?

Haagerup: Natürlich braucht es Spezialisten. In unserem Newsroom arbeiten drei Arten von Journalisten: 1) Spezialisten für ein Medium, in dem sie sehr gut sind. 2) Wir haben mehr und mehr Fachjournalisten, die sich in einem inhaltlichen Gebiet sehr gut auskennen. Sie produzieren Packages zu bestimmten Ereignissen, Themen, Entwicklungen. Die beginnen damit online, berichten für das Radio und produzieren dann noch die Story über die Hintergründe und mögliche Konsequenzen für das Fernsehen. 3) Generalisten, oft junge Reporter, die sehr rasch die ersten Informationen über ein Ereignis, einen Unfall etwa oder auch Verbrechen für viele verschiedene Plattformen multimedial covern. Zum Beispiel Livereporter, die entweder mit einem Kameramann oder Fotografen ausrücken oder gleich selbst als Videojournalisten filmen.

STANDARD: Und dazu braucht es Regie für das Zusammenspiel.

Haagerup: Miteinander zu arbeiten, Material gemeinsam zu nutzen ist das Eine. Aber man muss sich auch überlegen: Wo ist das sinnvoll – und wo ist es klüger, sich auf eine Plattform zu konzentrieren. Die zentrale Frage ist: Was ist das beste für die Story? Wenn etwa ein Minister etwas sagt, das ganz Österreich jetzt interessieren dürfte, dann sollte diese Aussage rasch über alle Kanäle hinausgehen. Aber in den Abendnachrichten ist es dann zuwenig, nur diese Aussage zu bringen – das interessiert keinen mehr. Wenn Sie das Statement bringen, dann mit journalistischer Expertise: Was ist die Konsequenz dieser Aussage, wozu wird sie morgen führen, warum sagt er oder sie das?

Es ergibt wirklich Sinn, die Journalisten, die heute an verschiedenen Orten in ganz Wien arbeiten, in einem neuen Gebäude zusammenzubringen: Sie alle haben praktisch dieselbe Aufgabe: Nämlich die Österreicherinnen und Österreicher so gut zu informieren, dass sie sich ihr eigenes Bild machen können – ohne für diese Aufgabe unnötig viel Geld aufzuwenden. Es ist einfach dumm, drei, vier, fünf Journalisten mit derselben, einfachen Geschiche zu befassen. Wenn man drei oder vier von ihnen für besseren Journalismus zu anderen Themen einsetzen kann, die bisher vielleicht unterbelichtet sind, verbessert das die Qualität weiter.

Konstruktiv zur Lage der Medien

STANDARD: Und journalistische Qualität sehen Sie in einem Zugang, den Sie "Constructive News" nennen. Wie würde eine nach Ihren Prinzipien für konstruktive Nachrichtengestaltung eine Story über die Medienbranche 2014 aussehen?

Haagerup: Der Anspruch wäre nicht, eine Constructive-News-Story zu gestalten. Die Ambition würde vielmehr lauten: Ein wahres Bild der Medien und ihrer Situation zu vermitteln. Dieses Bild hätte zwei Perspektiven: Einerseits brechen die gewohnten Finanzierungsmodelle traditioneller Medien zusammen. Andererseits würde dieser Beitrag womöglich danach fragen: Gibt es jemanden, der ein neues Finanzierungsmodell gefunden hat? Gibt es traditionelle Medien, die einen erfolgreichen Weg in die digitale Welt eingeschlagen haben? Gibt es einen neuen, anderen Zugang zu Journalismus, der zu funktionieren scheint? Der Beitrag könnte zum Beispiel zu erklären versuchen, warum die Auflagen und die Werbebuchungen der "Zeit" in Deutschland gegen den allgemeinen Trend steigen. Oder sie zeigen eine Regionalzeitung in Dänemark, Fyns Stifttidende,die das Prinzip der "Constructive News" so gekonnt einsetzen, dass ihre Auflagen zulegen. Sie haben ihre Rolle in der Gesellschaft geändert, ihre Aufgabe für die Gesellschaft in den Augen ihrer Leser.

Der schlimmste Chefredakteur

STANDARD: Damit wir nicht zu staatstragend enden: Sie kennen die dänische Politserie "Borgen" und den Charakter des TV-Infochefs Torben Friis. Sie haben die Autoren doch hoffentlich nicht zu dieser Figur inspiriert?

Haagerup (lacht): Ich kenne den Autor und ich kenne den Schauspieler, der Torben Friis spielt. Ich hab sie angeschrien: Warum ist er kein Held? Das ist ein Feigling. Der schlimmste Chefredakteur, den man sich vorstellen kann. Okay, am Schluss zeigt er doch Charakter. Aber bis dahin ist er ein wirklich lausiger Kerl. Ich hoffe wirklich nicht, dass ich auch nur im Entferntesten dazu inspiriert habe. (fid, derStandard.at, 24.1.2014)