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"'La Bohème' verdanke ich mein Leben": Rolando Villazón als Rodolfo, Anna Netrebko als Mimì.

Archivfoto: AP/Ken Howard (Metropolitan Opera, New York 2006)

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Jeden Tag ausverkauft: "Zauberflöte" mit Ana Durlovski als Königin der Nacht in Bregenz (2013).

Foto: APA/DIETMAR STIPLOVSEK

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Ilija Trojanow, geb. 1965 in Sofia, ist Schriftsteller, Übersetzer und Verleger. In seinem Opernblog "Operama" wird er subjektiv eigenwillig und in literarischem Ton die Bedeutung des Musiktheaters heute anhand aktueller Aufführungen in Wien und anderswo unter die Lupe nehmen und die Frage stellen, wie sich unsere Zeit in den Inszenierungen widerspiegelt. Hintergrundberichte, Porträts und Interviews runden das Operama ab. Ab 28.1. auf derStandard.at/Operama.

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Ich verdanke der Oper mein Leben. Nicht aufgrund einer existenziellen Offenbarung, sondern unmittelbar, geradezu buchstäblich. Genauer gesagt verdanke ich La Bohème mein Leben, was mich ein wenig wurmt, stünde ich doch lieber bei L'Orfeo, Don Giovanni oder Rigoletto in der Schuld. Aber wer sich nur die Rosinen aus dem Schicksalskuchen herauspickt, der verhungert bekanntlich, und so sollte ich dankbar sein für das glückselige Zusammenspiel zwischen Maestro Puccini und meinem Großvater, Ilija Iwanow, seines Zeichens Regisseur an der Nationaloper in Sofia, in jüngeren Jahren als Geiger im Orchester des Zaren musizierend.

Für seine Inszenierung von La Bohème an der Oper in Warna (den Rodolfo sang der berühmte bulgarische Tenor Nikola Nikolow, der später auch an der Wiener Staatsoper gastierte) erhielt mein Großvater, Schüler von Stanislawski und Verfechter einer Popularisierung der Oper, den höchsten Kulturpreis Bulgariens, den Georgi-Dimitrow-Preis. Zugegeben, ich wäre lieber einem anderen Preis verpflichtet, einem weniger anrüchigen, als diesem nach dem langjährigen Generalsekretär der Komintern, einem Stalinisten und Schlächter, benannten. Mit dem für die damaligen Verhältnisse beachtlich hohen Preisgeld lud mein Großvater Mitarbeiter sowie Mitglieder des Ensembles zu einem Festessen ein, die restliche Summe übergab er gleich am nächsten Morgen einem seiner Fans, dem Kulturattaché der US-amerikanischen Botschaft.

Denn meine Mutter, ein Kind noch, war an Tuberkulose erkrankt, und nur ein neues und in diesen frühen Nachkriegsjahren im Ostblock nicht verfügbares Zaubermittel namens Penicillin konnte sie retten. Der Diplomat zwackte das Antibiotikum von irgendwelchen botschaftseigenen Vorräten ab, meine Mutter gesundete, und ich wurde, ein Dutzend Jahre später, schon im Mutterleib Nutznießer eines Abonnements.

Biografisch derart geprägt, bin ich wenig geneigt, dem gängigen Vorwurf, Operngeschichten wären unglaubhaft, Beachtung zu schenken. Ich bin mit Musiktheater aufgewachsen; als Kind ergänzten Libretti die übliche Märchenkost, meine Mutter sang gelegentlich Arien auf Bulgarisch (in jener Zeit wurden alle Opern in der Landessprache gesungen) und als Jugendlicher träumte ich davon, eine ganze Oper auswendig singen zu können, dem Vorbild des Großvaters folgend, vom dem erzählt wurde, er habe an entspannten Sonntagen mit seinen Töchtern den ganzen Troubadour gesungen. Wie gerne hätte ich mich selbst wie Roald Dahls merkwürdiger Onkel Oswald bei langen Fahrten durch die Wüste mit Gesamtwiedergaben aus eigener Kehle zu beglücken gewusst. Doch leider heiratete mein Großvater eine reizende, aber eher unmusikalische Frau, die diesen Mangel dann genetisch etablierte.

Wunder oder Hybris

Oper war also in meinem Leben von Anfang an wie eine Naturkraft gegenwärtig, weswegen ich an guten Tagen vergesse, welche Überforderung sie eigentlich darstellt, welch vermessener Ehrgeiz sie vorantreibt – schon das Wort Gesamtkunstwerk klingt wie ein Großprojekt, bei dem die Baukosten um ein Vielfaches überschritten wurden. An schlechten Tagen hingegen fühle ich wie alle Operistas mit aus Enttäuschung geronnenem Zorn die Maßlosigkeit des Anspruchs und die Schmerzen des Scheiterns. Oper ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit oder eine sichere Bank: Entweder sie erstrahlt als Zivilisationswunder, oder sie zerfällt als Kulturhybris. Eine Reihe hervorragender Sänger und Sängerinnen, ein aufgeschlossenes Orchester samt feinfühligem Dirigat, eine stimmige Neuinterpretation eines oft dargebotenen Stoffes, ein inspiriertes Bühnenbild sowie kongeniale Kostüme – und all das im richtigen Verhältnis zueinander gesetzt und ausbalanciert, wie schwierig kann das sein? Antwort des berühmten Musikkritikers Alex Ross: "I've seen a lot of stupid, repulsive, irritating, befuddling, and boring things on opera stages over the years."

Oper überfordert nicht nur die meisten Häuser, sondern auch einen Großteil des Publikums. Wenn ich bedenke, dass ich bei Lesungen, zu denen ich assoziativ montierte Bilder an die Wand beame, immer wieder zu hören bekomme, es sei doch recht schwer, sich auf Text und Bild gleichzeitig zu konzentrieren, stellt sich die Frage, wie viel Übung es bedarf, die verschiedenen Facetten einer Aufführung wahrzunehmen, die Querbezüge zu verstehen sowie sie in den Räumen der eigenen Fantasie zu ästhetischem Genuss und geistigem Gewinn zu verdichten, zumal meist in einer fremden Sprache gesungen wird und die Übersetzung oberhalb respektive seitlich der Bühne oder im Rücken des Sitzes vor einem flimmert. Wer das Libretto vorab nicht gelesen und sich nicht in die Musik eingehört hat, der wird aller Wahrscheinlichkeit nach vieles übersehen und überhören. Oper ist passiver Hochleistungssport.

Betrieben wird sie jedoch zunehmend als Event, und zwar mit erstaunlich großem Erfolg. Weltweit existieren mehr Opernhäuser und freie Ensembles, erfolgen mehr Aufführungen als je zuvor. Zwar erweitert sich das Repertoire kaum (während archäologisch manches ausgebuddelt wird, haben Neutöner kaum eine Chance), doch es nutzt sich offenbar nicht ab. Gewiss, die Köpfe im Auditorium sind überwiegend grau (je älter ich werde, desto weniger stört mich dies, merkwürdigerweise wächst die Zahl der Zuschauer in meinem Alter von Jahr zu Jahr) und die Tickets ziemlich teuer, und doch strömen die Massen zu den Festivals, den etablierten wie den neuen, die in der Provinz wie Pilze aus dem Boden schießen. Die Zauberflöte in Bregenz war letzten Sommer jeden Abend ausverkauft, einen Monat lang. Daniel Barenboims Ring des Nibelungen (der Mount Everest unter den musikdramatischen Herausforderungen) zog bei den legendären BBC Proms 6000 Zuschauer an.

Die Oper Leipzig verzeichnete 2013 ein Rekordjahr mit einer Auslastung von 73,8 Prozent, eine enorme Steigerung im Vergleich zu den 51 Prozent des Vorjahres. Die Deutsche Oper Berlin schloss das Jahr mit einer Auslastung von 82 Prozent bei insgesamt 235.000 Besuchern ab, eine Steigerung um drei Prozent (selbst ein modernes Werk wie Benjamin Brittens Peter Grimes verzeichnete einen beachtlichen Publikumszuspruch von 81 Prozent). Und die Wiener Staatsoper weist eine Auslastungsrate vor, die um den Hauch einer vornehmen Bescheidenheit unter 100 Prozent liegt. Selbst Diktatoren, die Wahlergebnisse fälschen, sind weniger erfolgreich.

Wie kann das sein? Wie kann eine Überforderung derart beliebt sein? Ist alles in bester Ordnung, oder nimmt die Tendenz, Oper ins "Kulinarisch-Repräsentative" zu gelatinieren, unaufhaltsam zu? Unterliegt ihr Erfolg womöglich einem folgenschweren Missverständnis, einer absichtlichen Missachtung ihrer Wesenheit? Gilt das Diktum von Hans Neuenfels – "Ich glaube, dass Oper eine Art von Überfall auf unsere Gehirne und unsere Gefühle ist und dass man sich eigentlich wappnen muss, um in die Oper zu gehen" – oder hat sich alles längst in Wohlklang aufgelöst? Anders gefragt: Sollte Musiktheater nicht mehr sein als nur "ein Schmuckkästchen im Neoliberalismus", wie der Linzer Dramaturg und Librettist Werner Haendeler es ausdrückt? In den bald 50 Jahren seit der Forderung von Pierre Boulez, man solle die Opernhäuser in die Luft sprengen (zur Befreiung selbstverständlich, so wie man manches Denkmal in die Luft sprengt), hat der Spielbetrieb einen Salto mit Drehung vollzogen.

Zunächst wurde das Musiktheater aus den Untiefen eines seichten Brunnens geborgen und durch innovative Konzeptregie ebenso wie durch die historische Aufführungspraxis reanimiert. Die Opernbühne wurde wieder etabliert als Transformator gesellschaftlicher Spannungen und als utopischer Raum. Doch wie bei allen Revolutionen folgte dem Aufruhr eine Phase der Exzesse, dann die Flucht in die Restitution. Die Dantons der Mise en Scène sind vielerorts den Metternichs der Inszenierung gewichen. Oper gilt wieder als braves, gemütliches Vergnügen, und wer sich heute in bestimmten Kreisen als Opernliebhaber outet, wird entsetzt angeschaut, als würde er mit Lebensmitteln spekulieren oder an kannibalischen Riten teilnehmen.

Die Opern des Repertoires werden eingekellert wie Wein aus berühmten Lagen, regelmäßig wird eine feine alte Flasche dekantiert, die Connaisseurs vergewissern sich mit elaboriert-etablierten Gesten, wie blumig und fruchtig das Bukett riecht, wie erdig und pfeffrig der Tropfen auf der Zunge zerrinnt. Operngenießer steigen immer wieder in den wohlsortierten Vorratskeller ihrer Tradition hinab, die Federweißen eines jeden Jahrgangs werden hingegen nur angenippt und dann weggegossen, die Gespräche erschöpfen sich in der Frage, bei welcher Temperatur der Wein zu lagern und wie er zu servieren ist. Oper verkommt zum affirmativen Spektakel – weltweit.

So hat das autoritär-brutale chinesische Regime Turandot zu einer alle Stärken des Systems bestätigenden Gigantomanie instrumentalisiert, so fand in der Arena di Verona keine kritische Auseinandersetzung mit den korrupten Verfilzungen im Reiche Berlusconi statt, sondern tourismusfördernde Aufmärsche. All das ist für einen wahren Opernliebhaber zum Heulen.

Domestizierter Gegenwind

Wer aber allein der Oper einen rein affirmativen Duktus vorwirft, übersieht die Zeichen der Zeit, die nicht auf Sturm stehen, sondern auf Windmaschine, technisch raffiniert angeworfen, um auf der Bühne allen möglichen Gegenwind zu erzeugen, der aber in seiner rebellischen Energie durch und durch domestiziert ist. Wir inszenieren nur noch Spielformen des Widerstands, so dass jegliche Empörung inkorporiert und sogar in Ware verwandelt wird. Nie werde ich vergessen, wie vor einigen Jahren bei den Salzburger Festspielen in einer denkwürdigen Aufführung von Luigi Nonos Al gran sole carico d'amore nur kurz nach dem Aufschrei von Louise Michel, Anführerin der Pariser Kommune, die Bourgeois müssten an die Wand gestellt werden, um mich herum etliche Zuschauer, die aller Wahrscheinlichkeit nach in diese soziale Kategorie passten, eifrig aufsprangen und ekstatisch Applaus spendeten für eine gelungene Vertonung ihrer eigenen Abschaffung.

Doch Oper ist und bleibt politisch, allein schon durch ihre öffentliche Förderung in unseren Breitengraden (in den USA ist die Lage anders). In einer durch und durch ökonomisierten Gesellschaft sind Budgetfragen oft die entscheidenden politischen Fragen, und die Virtuosität des zeitgenössischen Direktors besteht darin, Mäzene bei Laune zu halten – die Sponsoren sind die Soprane des Spätkapitalismus, die einem bei Missvergnügen schnell wieder abspringen, ohne eine Erkältung vortäuschen zu müssen.

Weil Oper viel fordert und viel bietet, zählt sie viele eingefleischte Fans, die sich in sektiererischer Apodiktik kundige Grabenkämpfe liefern, wie schon ein Blick ins Internet zeigt. Against Modern Opera Productions etwa hat auf Facebook 8435 "Gefällt mir"-Klicks erzielt. Die Seite postet gewitzte visuelle Polemiken ("Was nimmt man in die Oper mit? Früher: ein Opernglas. Heute: eine Augenbinde.") wie auch Fotografien von bewunderten Bühnenbildern, die allesamt einer Nostalgie nach gut beleumundetem Kitsch entstammen. Es reicht schon das Wort Regietheater um in solchen Kreisen allergische Reaktionen auszulösen.

Gewiss, manchmal hat man den Eindruck, die Musik gehöre zu einer anderen Oper als die Inszenierung – wobei sich diese Divergenz doch bestens vermarkten ließe: zwei Opern für den Preis von einer! Und zugegeben, manche Inszenierung gilt als Vorwand, eine altehrwürdige Oper an den Haaren in alle Richtungen zu schleifen (abschreckendes Beispiel war für mich in letzter Zeit die Arbeit von Andrea Moses in Stuttgart), wobei übersehen wird, dass man das Werk an der Perücke gepackt, diese sich schon abgelöst hat.

Doch das sind keine grundsätzlichen Einwände. Das Schlagwort Regietheater ist nur eine faule Ausrede, sich nicht die Arbeit machen zu müssen, harmlose, belanglose Inszenierungen von relevanten, zeitgemäßen zu unterscheiden. Die Zahl der Nackten oder Skelette auf der Bühne gibt diesbezüglich wenig Auskunft. Konventionelle, biedere Inszenierungen gewähren dem Zuschauer nur die Freiheit, sich selbst zu entmündigen. Wer als Regisseur das Exemplarische unterstreichen will, indem er uns gegenwärtiges Anschauungsmaterial liefert, wer – konkreter gesagt – etwa einen Grafen durch einen Oligarchen ersetzt, befreit das Kunstwerk aus dem Mausoleum. Der dramatische Grundkonflikt zwischen Intimi-tät und Öffentlichkeit kann im 21. Jahrhundert schwerlich mittels Blicks durchs Schlüsselloch ausgetragen werden. Wer sich heutzutage im Alkoven versteckt, hat ein Smartphone zur Hand, wer Informationen klauen will, verfügt über die richtige App oder über Scarpias Allmacht.

Ein Regisseur, der das Belauschen nur als tollpatschiges Instrument der Opera buffa oder der Commedia dell'Arte betrachtet – wie viele Morde und Selbstmorde, wie viele Duelle und Verbannungen wären uns erspart geblieben, Pardon: würden wir missen, wäre nicht giftiges Wissen aus der Pandorabüchse entwichen -, missachtet die Zeichen der Zeit und verkauft das Musiktheater unter Wert. Die Irrungen und Wirrungen in Le nozze di Figaro gestalten sich, durch das Prisma unserer Zeit betrachtet, als Problem angewandter Überwachungssoftware. Wer in der Pause beherzt von Mozarts aufklärerischem Impetus schwärmt, der sollte die aktuellen Kampfzonen der Aufklärung nicht meiden. Alles andere ist so relevant wie die Büsten in den Wandelgängen.

"Nur" Wortschmied

Selten in meinem Leben war ich so stolz wie vor einigen Jahren an der Kasse des legendären Stuttgarter Musikladens Einklang. Der Verkäufer hatte nach einem Blick auf meinen Einkauf und den Namen auf meiner Kreditkarte mit Hochachtung in der Stimme gefragt: "Sänger oder Dirigent?" Worauf ich mir seine Frage zunächst in den Ohren zergehen ließ, bevor ich unwillig antwortete: "Leider nur Schriftsteller." Der Verkäufer steckte sichtbar enttäuscht meine Karte in das Gerät, legte mir den Beleg wortlos zur Unterschrift hin und verabschiedete sich höflich, aber distanziert. Vielleicht lag die Verwechslung an meinem Mantel samt Schal, beide neu erworben und elegant, vielleicht aber auch an der Wahl der CDs: Louis Spohrs Jessonda, Carl Heinrich Grauns Montezuma und Gaspare Spontinis Agnes von Hohenstaufen, allesamt zwar nicht völlig obskure, aber doch eher selten aufgeführte und erworbene Opernwerke. Beschwingt marschierte ich durch den kalten Winterabend auf dem Weg in das Stuttgarter Opernhaus, das seit längerem zu den besten in Deutschland gehört.

Erst mit einiger Verspätung wurde mir bewusst, dass ich mich quasi dafür entschuldigt hatte, "nur" Wortschmied zu sein. Aus mir war der tiefsitzende Minderwertigkeitskomplex der Literatur herausgeplatzt, neben der wirkungsmächtigsten aller Kunstformen, der Musik, nur die zweite Geige zu spielen. Um diese zweite Geige besser stimmen zu können, werde ich in nächster Zeit auf der Webseite des Standard einen Opern-Blog schreiben, denn Oper könnte so viel mehr sein als das Wunder, das sie sowieso schon ist. (Ilija Trojanow, Album, DER STANDARD, 25./26.1.2014)